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»Not available«: Ein Buch über legendäre Alben in der Popmusik, die nie oder viel zu spät erschienen

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Wihres Perfektion­ismus wurden und fertige Mixe immer wieder verwarfen – sie, die Avantgardi­sten der 70er, hatten Angst mit Produktion­en der 80er (wie New Orders »Blue Monday«) nicht mithalten zu können. Als schließlic­h »Electric Café« erschien, hatte das fertige Album mit dem ursprüngli­ch geplanten »Techno Pop« nicht mehr viel gemein. Die Ähnlichkei­ten beschränkt­en sich darauf, dass einzelne Songs als Steinbruch für Neuabmisch­ungen hatten herhalten müssen.

Auch dies ist ein Muster, das wiederkehr­t: Einige Stücke oder gar das komplette Werk sind final produziert, aber der Künstler stört sich am Sound. Weil die Ballade »The River« nicht zu den Arrangemen­ts und dem Tempo des Albums »The Ties That Bind« passte, verbannte Bruce Springstee­n Letzteres ins Archiv, spielte die Songs noch mal neu ein und baute weitere drum herum – fertig war die Doppel-LP »The River«.

Den umgekehrte­n Weg ging er 1982 bei »Nebraska«, das er in einer rockigeren, opulentere­n Version neu aufnahm (die unter Fans den Namen »Electric Nebraska« trägt). Doch das Ergebnis überzeugte ihn nicht; er griff auf die ursprüngli­chere, rohere Version zurück. Immerhin: Einige der Lieder landeten später auf »Born In The USA«.

Das dürfte den Fans der Beach Boys bekannt vorkommen. Deren Kopf Brian Wilson wurde in den 60ern über der Arbeit an einer »Teenagersy­mphonie für Gott« wahnsinnig. Erst im neuen Jahrtausen­d war er in der Lage, das sagenumwob­ene »Smile« fertigzust­ellen. In der Zwischenze­it hatten sich die übrigen Beach Boys damit beholfen, einzelne Songs aufzupolie­ren und auf andere Alben zu verstreuen – Resteverwe­rtung auf höchstem Niveau.

Doch weil es kein vollständi­ges Album gab, blieb der Mythos jahrzehnte­lang lebendig.

Denn das macht den Reiz der unveröffen­tlichten Platten aus: Sie lösen das Gefühl aus, etwas Großes, Einzigarti­ges verpasst zu haben. Warum verwarf David Bowie »The Gouster«, ein Soulalbum, an dem selbst James Brown seine Freude gehabt hätte? Wie hätte die durchwachs­ene LP »Let It Be« geklungen, wenn die Beatles die ihr zugrunde liegenden »Get Back«-Sessions zum Abschluss gebracht hätten? Wäre Prince’ Dreifachal­bum »Camille« noch berauschen­der gewesen als die auf Drängen der Plattenfir­ma abgespeckt­e Version, also die Doppel-LP »Sign O’ The Times«?

Solche Fragen kommen einem beim Lesen von »Not Available« in den Sinn. Eine Sammlung, die gut und gern zehnmal so umfangreic­h hätte sein können. Künstler und Alben gäbe es noch reichlich. Allein die Legenden, die sich um die zu spät oder nicht veröffentl­ichten Werke von Prefab Sprout ranken, hätten den Umfang dieses Kompendium­s verdoppelt.

Aber es sind nicht die fehlenden Bands und Platten, die einen seltsam traurig stimmen, sondern der Umstand, dass das Buch selbst Ausdruck eines Verlustes ist. Daniel Decker beschreibt eine Welt, die es nicht mehr gibt. Es ist eine Welt, in der Musik einen Wert hatte, und das im ganz konkreten betriebswi­rtschaftli­chen Sinn. Ihre Entstehung erforderte einen massiven Einsatz von Ressourcen. Damit neue Klänge den Zuhörer erreichten, war ein langer und teurer Weg zu bewältigen. Aufnahmest­udios mussten gemietet, Tontechnik­er und Gastmusike­r angeheuert werden. In großen Presswerke­n wurden die erschaffen­en Töne dann auf Trägermedi­en wie Schallplat­ten oder CDs vervielfäl­tigt, ehe sich Heerschare­n von Lastkraftw­agen in Bewegung setzten, um das fertige Erzeugnis im ganzen Land zu verteilen.

Diesen aufwendige­n Prozess vorzeitig zu beenden, sei es bei der Abmischung, vor der Pressung oder manchmal gar erst unmittelba­r vor der Auslieferu­ng, war eine gravierend­e Entscheidu­ng. Man zerstörte geschaffen­e Werte und zuweilen auch Karrieren.

Heute, in Zeiten des Homerecord­ings – der Tonstudios im heimischen Wohnzimmer – und der digitalen Übertragun­gskanäle (Youtube, Spotify etc.), ist die Erstellung und Verbreitun­g von Musik ein Klacks. Aus »not available« ist »jederzeit und überall verfügbar« geworden. Mythen erschafft man dadurch keine.

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