Robert Rauh wollte wissen, warum es 1961 keinen Aufstand gegen die Mauer gab
überstürzten Kollektivierung der Landwirtschaft sowie dirigistischer Wirtschaftspolitik der SED. Dies alles bewegte die DDRBürger mehr als die Grenzschließung. »Dass vieles knapp war, hat die Leute mehr aufgeregt als die Mauer«, erinnert sich eine Verkäuferin.
Rauh hat neben den Akten Briefpublikationen ausgewertet und eine Befragung unter damaligen DDR-Bürgern geführt. Über 53 Prozent stimmen unterschiedlich intensiv der Einschätzung zu, dass der Mauerbau damals notwendig war. Interessant dabei: Nur ein Viertel der Befragten gehörte damals der SED an, und fast vier Fünftel sahen die DDR keineswegs als demokratisch legitimiert an. Über Rauhs methodisches Herangehen kann sicherlich gestritten werden. Dennoch beeindrucken seine Befunde, die konträr zur offiziellen Geschichtsschreibung über die DDR stehen. Der Autor konstatiert nebenbei verwundert, dass »über das Grenzregime des SED-Staates ... auch heute die wenigsten Ostdeutschen offen sprechen« wollen. Wer hindert sie heute daran, frei ihre Meinung zu sagen?
Rauh versteht, dass DDR-Bürger 1961, so sie sich in der überwiegenden Mehrheit nicht für eine Flucht entschieden, unter den Alltagsmängeln einer krisengeschüttelten Wirtschaft litten. Außenpolitische Zusammenhänge tut er jedoch als SED-Propaganda ab. Tatsächlich gab es jedoch 1961 eine gefährliche Zuspitzung der internationalen Lage, die zu einer brisanten Eskalation zwischen den Supermächten hinsichtlich Kuba und Indochina führte und den US-Präsidenten John F. Kennedy und den sowjetischen Parteiund Regierungschef Nikita Chruschtschow im Juli 1961 in Wien zum Gespräch drängte. In diesem wurde vereinbart, dass eine Veränderung des Status quo in Deutschland und Berlin von beiden Seiten nicht gewünscht war. Moskau und Ostberlin bekamen freie Hand, die Krise in der DDR auf ihre Weise zu lösen – vom Westen sicher mit der Überzeugung verbunden, dass dies moralisch für den Osten desaströs werde. Auch hier wären Einsichten in den Charakter des deutsch-deutschen Konflikts, des künstlich erzeugten Wechselkurses, der Anwerbung von DDRBürgern in den Westen zu befragen. Und es wäre auch danach zu fragen, ob und wie sich Bonn auf eine (mit verursachte) Krise der DDR mit allen, auch militärischen Mitteln vorbereitete.
Bemerkenswert ist die Feststellung des Autors, dass nur einmal, 1987, einige Tausend Jugendliche angesichts eines in Westberlin nahe der Grenze stattfindenden Rockkonzerts
offen gegen die Mauer demonstrierten. Noch bemerkenswerter ist seine Beobachtung, dass »die Mauer in den Papieren und Programmen der Oppositionsbewegung in den 80er Jahren nicht thematisiert wurde«. Dessen ungeachtet stehen über drei Jahrzehnte nach dem Umbruch und dem Untergang der DDR nicht die Reformeinforderungen der Bürgerrechtler im Fokus der Erinnerung, sondern der Fall der Mauer und der Vollzug der deutschen Einheit.
Rauh resümiert als Ergebnis seiner Recherchen: »Selten waren sich SED-Führung und Bevölkerung so nah. Allerdings gab es unterschiedliche Motive, den Zusammenbruch zu verhindern. Die DDR-Bürger wollten vor allem die wirtschaftliche und soziale Krise überwinden. Der SED-Führung ging es in erster Linie darum, ihre politische Macht zu sichern.« Auch wenn hier, wie so oft, der politische Anspruch der SED verabsolutiert wird und nicht akzeptiert wird, dass es auch einen
Anspruch auf die gemeinsame Gestaltung der Gesellschaft mit den Menschen im Land gab, so ist diese Aussage wohl im Kern treffend. Die Chance einer ungestörten Entfaltung des Sozialismus in der DDR wurde letztlich allerdings systematisch verspielt.