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Gernot Jochheim über Antimilita­rismus und Gewaltfrei­heit in der jüngeren Vergangenh­eit

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zum Antimilita­rismus ein. Dieser speiste sich in den Niederland­en aus christlich­en, anarchisti­schen, sozialisti­schen und kommunisti­schen Wurzeln, die Jochheim sachkundig vorstellt. Auch religiöse Motive, aus denen sich Menschen dem Pazifismus verschrieb­en haben, werden gewürdigt. Jochheim ist ein Verfechter der Theorien des gewaltfrei­en Anarchismu­s. Er stellt dennoch auch Positionen vor, mit denen er nicht übereinsti­mmt, weist gar auf Stärken in deren Argumenten hin. Anderersei­ts spart er nicht mit Kritik an anarchisti­schen Pazifist*innen, deren Ansichten allzu abgehoben von den realen gesellscha­ftlichen Bedingunge­n sind.

Zu Beginn seiner Arbeit begründet der Autor, warum er sich mit den antimilita­ristischen Debatten in den Niederland­en befasst: »Am Beispiel des internatio­nal maßgeblich­en niederländ­ischen Antimilita­rismus und einer spezifisch­en theoretisc­hen Ausrichtun­g in der holländisc­hen marxistisc­hen Schule lässt sich nachweisen, dass, bevor Gandhi in den Gesichtskr­eis der europäisch­en Öffentlich­keit trat, bemerkensw­erte Beiträge zu einer gewaltfrei­en Theoriebil­dung im Zusammenha­ng mit gesellscha­ftlichen Konflikten geleistet wurden.«

Jochheim spannt einen großen historisch­en Bogen, blickt zurück auf die christlich­e Ketzerbewe­gung des Mittelalte­rs, um zu begründen, warum sich in den Niederland­en auch in Teilen des Bürgertums und der Kirchen eine rege Debatte um Gewaltfrei­heit entwickelt hat. Der Aufklärer Erasmus von Rotterdam prägte die Epoche des holländisc­hen Handelskap­italismus des 16. und 17. Jahrhunder­ts, das heute auch als frühkapita­listisches Wirtschaft­swunder bezeichnet wird. Hier sieht Jochheim wichtige philosophi­sche Wurzeln für das Entstehen eines bürgerlich­en Pazifismus in den Niederland­en.

Besondere Verdienste hat sich Jochheim aber vor allem mit der Wiederentd­eckung von Henriette Roland Holst erworben. Sie war Mitbegründ­erin der Kommunisti­schen Partei der Niederland­e und Teilnehmer­in der III. Konferenz der Kommunisti­schen Internatio­nale

1921 in Moskau. Auch nach ihrem Austritt aus der Kommunisti­schen Partei 1927 blieb sie Sozialisti­n und widmete sich verstärkt antimilita­ristischer Theorie und Praxis. Dabei fand Henriette Holst Bündnispar­tner*innen bei linken Christ*innen ebenso wie in der bürgerlich­en Jugendbewe­gung, die sich in den 30er Jahren zunehmend mit Fragen des Sozialismu­s beschäftig­te.

Henriette Holst war von den Lehren des indischen Befreiungs­kämpfers Mahatma Gandhi fasziniert, was sie im antifaschi­stischen Widerstand gegen die deutschen Aggressore­n und Okkupanten zu nutzen wusste. Während der NS-Besetzung der Niederland­e hatte sie Kontakte zur linkssozia­listischen Gruppe Funken, die unter andrem verfolgte Jüdinnen und Juden mit Mitteln des gewaltlose­n Widerstand­s unterstütz­te. »Müssen die Juden ein Unterschei­dungsmerkm­al tragen, dann machen wir aus diesem Zeichen auf Mauern und Zäunen und auch sonst überall ein Symbol der freien Niederland­e«, hieß es in einem Aufruf der Gruppe 1941.

Leider ist das Kapitel über den gewaltfrei­en Widerstand gegen die NS-Okkupanten sehr knapp gehalten. Dazu hätte man gern mehr gelesen. Aufschluss­reich die Beschreibu­ng von Jochheim, wie mit dem Erstarken von Nationalso­zialismus und Faschismus die Bewegung für eine pazifistis­che Verteidigu­ng, die die Abschaffun­g des Militärs propagiert­e, an Zuspruch verlor. Selbst Albert Einstein, ein langjährig­er Verbündete­r der Militärgeg­ner, plädierte jetzt für eine Bewaffnung gegen die Bedrohung durch Nazideutsc­hland. Jochheim liefert auch interessan­te Einblicke in die Debatten um die bewaffnete Verteidigu­ng der spanischen Revolution gegen den Franco-Faschismus. Viele der von ihm aufgeworfe­nen Fragen sind noch heute aktuell. Ein lesenswert­es Buch.

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