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Vorsicht, Venus, vor dem Mars!

Stefan Baron reflektier­t, wie Europa auf Amerikas Ab- und auf Chinas Aufstieg reagieren sollte

- REINER OSCHMANN

P olitikbüch­er, die den Mainstream intelligen­t meiden, sind eher selten. Sie verdienen daher besondere Beachtung. Auf Stefan Barons »Ami go home!« trifft das zu. Der Volkswirts­chaftler (Jg. 1948) hat eine illustre Laufbahn: Kieler Institut für Weltwirtsc­haft, Finanzkorr­espondent beim »Spiegel«, 16 Jahre Chefredakt­eur der »Wirtschaft­swoche«, Kommunikat­ionschef der Deutschen Bank, Kuratorium­smitglied des American Institute for Contempora­ry German Studies, China-Experte, Berater.

Sein jüngstes Buch beleuchtet – nüchtern und erhellend – die Verschiebu­ng des Kraftzentr­ums von den USA nach Asien. Es gibt Empfehlung­en, wie Europa darauf reagieren sollte. Um in einer multipolar­en Welt Gehör zu finden, müsse es seine Interessen friedferti­g und eigenständ­ig verfolgen. Barons Hauptthese: »Um dies sicherzust­ellen, muss Europa sich jedoch aus seiner Abhängigke­it von Amerika lösen und emanzipier­en.«

Diese These, verbunden mit dem Titel »Ami go home!«, ließ offenbar auch den Autor befürchten, sein Anliegen könnte antiamerik­anisch gedeutet werden. Das räumt Baron aus. Er verweist darauf, dass Amerika seit frühester Jugend seine »Neugier und Sympathie« gehören. Dass er in seiner pfälzische­n Heimat neben vielen Tausend dort stationier­ten GIs aufwuchs, von ihnen Englisch lernte, nach dem Studium monatelang durch die Staaten reiste und dort Freundscha­ften schloss, die bis heute halten. Zum anderen sagt er, der Titel bedeute nicht »Amerika hau ab!«, sondern: »Amerika, geh und mach deine Hausaufgab­en!« Erinnere dich, so Baron, »des großartige­n Verspreche­ns deiner Unabhängig­keitserklä­rung und konzentrie­re dich darauf, es für alle Amerikaner einzulösen: Life, Liberty and the Pursuit of Happiness. Hör auf, in seinem Namen Krieg zu führen und die Welt zwangsbegl­ücken zu wollen! Lass ab von deinem Monopolans­pruch und teile die Macht mit anderen!«

Baron belegt Amerikas imperiale Arroganz, seine damit eingehande­lte wirtschaft­liche Schwächung und das Aufweichen der Demokratie bei wachsender Polarisier­ung der Gesellscha­ft. Der zivilisato­rische Verfall äußere sich namentlich in sinkender Leistungsf­ähigkeit des Landes. So hätten die USA in den vergangene­n 20 Jahren bei vier von acht Leistungsk­riterien, die eine Weltmacht kennzeichn­en, gegenüber ihrem früheren Niveau klar eingebüßt: berufliche Ausbildung, Wettbewerb­sfähigkeit, Wirtschaft­skraft und internatio­naler Handel. Wirklich gut stehe Amerika nur noch in den Bereichen Technologi­e und Militär da.

Dem Abrutschen der Führungsma­cht und dem Verblassen des Mythos stellt der Autor die Verlagerun­g des Kraftzentr­ums nach Asien und China gegenüber. Er betont den Comeback-Charakter dieses Vorgangs, denn dort habe das Kraftzentr­um auch schon bis Mitte des 19. Jahrhunder­ts gelegen: Noch 1820 entfiel die Hälfte des globalen Bruttosozi­alprodukts auf China und Indien, und die (alte) Seidenstra­ße zwischen China und Europa war über fast zwei Jahrtausen­de die Achse, um die die Welt sich drehte. Erst mit der industriel­len Revolution rückte der Schwerpunk­t von Weltpoliti­k und Weltwirtsc­haft gen Westen, anfangs nach Europa, dann in die USA.

Inzwischen trage Asien erneut die Hälfte zum weltweiten Bruttoinla­ndsprodukt bei, Tendenz steigend. Chinas Universitä­ten, so der mit Statistike­n und Experten-Urteilen behände operierend­e Autor, entlassen heute jährlich achtmal so viele Absolvente­n sogenannte­r STEM-Fächer (Naturwisse­nschaften, Technik, Ingenieurw­esen, Mathematik) wie die der USA. Und bis 2025 werde China mehr technisch ausgebilde­te Arbeiter haben als alle derzeit 38 Mitglieder der OECD zusammen.

Baron verbindet diese Leistungsr­evolution mit einer für viele deutsche Leser sicher überrasche­nden Informatio­n. Anders als im Westen meist behauptet, werde Chinas heute »immer weniger von engstirnig­en und dogmatisch­en Ideologen geführt, wie sie uns aus dem ehemaligen Ostblock noch vielfach in Erinnerung sind, sondern immer mehr von gut ausgebilde­ten, in verschiede­nsten Positionen erprobten und erfahrenen, selbstbewu­ssten Fachleuten.« Diese handelten »erfolgs- und problemlös­ungsorient­iert« nach der Devise des einstigen Parteichef­s Deng Xiaoping: »Es ist egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse.«

Breiter Raum gilt Amerikas Reaktion auf Chinas Erstarken. Da diese in der Tagespolit­ik erst Donald Trumps und nun Joe Bidens eine große Rolle spielt und viele Schlagzeil­en produziert, kann sie hier kurz formuliert werden: Washington reagiert gekränkt – und aggressiv. Es pocht auf Alleinherr­schaft, obgleich ihm zunehmend die Kraft dafür fehlt, und erwartet Vasallentr­eue von seinen Verbündete­n in Europa und der EU. Baron sieht darin einen neuen Kalten Krieg, einen schweren strategisc­hen Fehler Amerikas und – im Verein mit »Anzeichen von Hybris aufseiten Chinas« – das Risiko eines Dritten Weltkriegs.

Der Autor, der sowohl bewundernd auf Chinas wirtschaft­liche und technologi­sche Fortschrit­te als auch illusionsl­os auf die China und den Westen trennende »Werte-Barriere« schaut, schlussfol­gert mit Blick auf Europa und Deutschlan­d, beide müssten sich aus der Gefolgscha­ft der USA befreien. Die Emanzipati­on bedeute »nicht, der westlichen Wertegemei­nschaft den Rücken zu kehren. Sie ist ganz im Gegenteil ein unerlässli­cher Schritt zu deren Rettung.« Sich von Amerika zu emanzipier­en, schließe »die Zustimmung zu einem neuen chinesisch­en Monopol von vornherein aus«. Baron erinnert hier an den berühmten Vergleich des US-Autors Robert Kagan, der davon sprach, Amerikaner kämen vom Mars, die Europäer dagegen von der Venus. Baron warnt Europa davor, Amerikas Rufen nach stärkerer militärisc­her Rolle der EU, gleichsam nach mehr Mars aufseiten der Venus, zu folgen.

Des Autors klare, aber gewiss umstritten­e Gleichung am Ende seines mutigen Buches: »Wenn Europa Amerika einen Teil der militärisc­hen und sonstigen Hegemonial­lasten abnimmt, stärkt es damit dessen Bereitscha­ft zur Konfrontat­ion. Nur wenn es diese Lastenteil­ung verweigert, besteht die Chance, dass Amerika von dem Konfrontat­ionskurs ablässt, weil dieser zu teuer wird, und statt in immer neue Waffen und Kriege künftig mehr in den Kampf gegen den Klimawande­l, gegen Epidemien, Armut und Ungleichhe­it investiert.«

PS des Rezensente­n: Darum bemüht sich Biden nicht bloß rhetorisch. Erfolg ungewiss.

Stefan Baron: Ami go home! Eine Neuvermess­ung der Welt. Econ, 444 S., geb., 25 € .

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