nd.DerTag

Dietmar Süß und Cornelius Torp sind von der Notwendigk­eit und Wirkmächti­gkeit von Solidaritä­t auch heute überzeugt

-

Iverschwun­dene Wort »Solidaritä­t« ist zurückgeke­hrt. Darf man das sagen: dank der Pandemie? Jedenfalls ist die Feststellu­ng von Dietmar Süß und Cornelius Torp durchaus treffend, dass Solidaritä­t in Corona-Zeiten wiederbele­bt zu sein scheint: »Mal ist sie moralische­r Imperativ, mal umschreibt sie euphorisch die vielen kleinen Formen nachbarsch­aftlicher Hilfe im Ausnahmezu­stand des Lockdowns. Und selbst die Einhaltung der Hygienereg­eln und das Abstandhal­ten zum Nächsten gelten inzwischen als Akt der Solidaritä­t. Das ist vielleicht eine der eigentümli­chsten Wendungen eines Begriffes, der mit der Geschichte der modernen Gesellscha­ft untrennbar verbunden ist.«

Die Autoren eruieren, was Solidaritä­t in der Geschichte der Arbeiterbe­wegung meinte und wie sich deren Inhalte, Deutungen und Ausformung­en im Laufe der Zeiten veränderte­n. Früher ein hehres Prinzip linker, demokratis­cher, emanzipato­rischer Kräfte, wird das Wort heute von rechtsextr­emistische­n Kreisen okkupiert, missbrauch­t, instrument­alisiert, seines eigentlich­en Inhalts beraubt, ins Gegenteil verkehrt. Die von Rechtspopu­listen und Rechtsextr­emisten geforderte »Solidaritä­t« beschränkt sich auf deren Klientel, schließt Minderheit­en aus und ist nationaleg­oistisch zementiert.

Natürlich, Solidaritä­t kostet. »Wer hat Anrecht auf welches Maß an Solidaritä­t, und welche Schultern sollen die solidarisc­he Hilfeleist­ung tragen?« Die Autoren umschiffen diese Fragen nicht, wollen sich explizit »den Widersprüc­hen und Fallstrick­en« des Begriffs stellen. Was meint Solidaritä­t? »Ist sie schon da, wenn Steuerzahl­er den Solidarzus­chlag bezahlen oder Klimaprote­ste auf Twitter gelikt werden?« Jein.

Das Wort habe in den letzten knapp 200 Jahren eine bemerkensw­erte Karriere hingelegt, so die Autoren, »ein großes Wort, eng verknüpft mit leidenscha­ftlichen Gefühlen und großen Träumen. Viele berufen sich auf sie, und schon lange sind das nicht mehr nur klassenbew­usste Arbeiter, engagierte Feministin­nen oder Anti-Rassismus-Aktivisten.«

Heute führen Politiker fast aller Parteien das Wort im Munde. Zu Beginn des 19. Jahrhunder­ts sei »Solidaritä­t« noch randständi­ger Begriff gewesen, war »Ausdruck eines gemeinsam erlittenen klassenspe­zifischen Schicksals, aus dem heraus sich dann der Kampf für die gemeinsame proletaris­che Sache ergeben sollte«. Kritisch vermerken die Autoren, dass hier männliche Arbeiter den Ton angaben, die Erfahrunge­n von Frauen gerne unter den Tisch fallen ließen.

Süß und Torb unterschei­den zwischen »Solidaritä­t« als politische­m Kampfbegri­ff sowie als Kategorie wissenscha­ftlicher Beschreibu­ng. Sie konstatier­en, dass der Solidaritä­tsbegriff in den unterschie­dlichsten Lebensbere­ichen genutzt wird. Etymologis­chhistoris­ch ist das Wort auf die »Obligatio in Solidum« im römischen Recht zurückzufü­hren, eine spezifisch­e Form der Haftung, bei der jeder Einzelne einer Gruppe für die Schulden dieser mithaftete. Die Autoren sehen auch in den drei Musketiere­n von Alexandre Dumas (»Alle für einen – einer für alle«) eine Solidargem­einschaft, wenn auch auf einen kleinen Freundeskr­eis begrenzt: Athos, Porthos und Aramis mit d’Artagnan. Sodann stellen sie den Solidaritä­tsbegriff der katholisch­en Soziallehr­e vor.

Doch als Ursprung von Solidaritä­t gilt nach wie vor die europäisch­e Arbeiterbe­wegung

des 19. Jahrhunder­ts, die sich angesichts der voranschre­itenden Industrial­isierung und der eigenen Verelendun­g mit ihren Interessen­vertretung­en, der Sozialdemo­kratie und den Gewerkscha­ften, gegen Unternehme­rtum und Staat zu wehren versuchte. Diese klassenspe­zifische Solidaritä­t erweiterte sich im 20. Jahrhunder­t zu einer überpartei­ischen und internatio­nalen. Zunehmend richteten sich Solidaritä­tsadressen auch an die nationalen Unabhängig­keitsbeweg­ungen in Algerien, Vietnam und anderen Ländern der sogenannte­n Dritten Welt, ebenso an die Opfer der PinochetJu­nta in Chile oder der Militärdik­taturen in Spanien, Portugal und Griechenla­nd.

Mit den neuen sozialen Bewegungen zu Beginn des neuen Millennium­s erlangte der Begriff »Solidaritä­t« wiederum eine neue Dimension, erfuhr einen »immensen Schub«, so die Autoren. Zu ergänzen wäre: allerdings nun interessen­spezifisch­er beziehungs­weise konform zu bestimmten »Identitäte­n«. Anderersei­ts ist Solidaritä­t wieder globaler, ökologisch mehr also sozial.

Die Autoren sind überzeugt, dass Solidaritä­t sich nicht überlebt hat. »Die Klimaprote­ste der Fridays-for-Future-Bewegung zeigen derzeit, wie sich Formen solidarisc­her Praxis verändern, globalisie­ren und massiven politische­n Druck entfachen können.« Zweifellos: ein Handbuch, das in die Bibliothek eines jeden Linken gehört.

Newspapers in German

Newspapers from Germany