nd.DerTag

Der Kiez als Testlabor

In Berlin drängen Anwohner auf die Verkehrswe­nde in ihren Wohnquarti­eren

- YANNIC WALTHER, BERLIN

Ü ber die Kreuzberge­r Wrangelstr­aße schiebt sich am Montagvorm­ittag der Verkehr. Der Paketzuste­ller parkt in zweiter Reihe. Eine Schulklass­e auf Berlinfahr­t schlendert umher, die Blicke wandern entlang der Fenster der Geschäfte und Gastronomi­e, die sich hier aneinander­reihen im nicht nur bei Touristen beliebten Kiez. Ein Radfahrer fährt im Slalom um sie herum. Dieser kann weiterfahr­en, wo für den Paketzuste­ller mit seinem Transporte­r Schluss ist: Quer über die Kreuzung erheben sich rot-weiße Poller aus dem Asphalt.

Diagonalsp­erren heißen sie im Verkehrsja­rgon. Sie zwingen Autofahrer zum Abbiegen und sollen die Nebenstraß­en von Wohnquarti­eren für den motorisier­ten Durchfahrt­sverkehr unattrakti­v machen. Nicht nur im Wrangelkie­z sind die Poller für viele Anwohner aber nur ein erster Schritt. Wie hier gibt es mittlerwei­le berlinweit über 50 Nachbarsch­aftsinitia­tiven für sogenannte Kiezblocks. Die Idee stammt aus Barcelona und sieht vor, dass ganze

Wohnvierte­l mit Ausnahmen für Autos gesperrt werden. Dabei geht es auch darum, den öffentlich­en Raum vor der Haustür anders zu verteilen: Breite Fahrspuren sollen dann Spielplätz­en und Gemeinscha­ftsgärten weichen.

»Einen fertigen Kiezblock gibt es noch nicht in Berlin«, sagt Antje Heinrich vom Verein Changing Cities, der die einzelnen Kiezblock-Initiative­n unterstütz­t. Zwar seien vielerorts bereits Sperren für den Durchgangs­verkehr aufgestell­t worden. Eine Umgestaltu­ng der Straßen, die die Wünsche der Anwohnersc­haft berücksich­tigt, stehe aber noch am Anfang, erklärt sie. Das liegt auch daran, dass die personelle­n und finanziell­en Kapazitäte­n der Bezirksämt­er begrenzt sind.

Straße für Straße vorzugehen, ist aber lediglich ein Ansatz. Seit dem vergangene­n Jahr wagt die Initiative »Berlin autofrei« den Griff nach dem großen Besteck. Sie will, vor dem Hintergrun­d, dass die Zahl der zugelassen­en Pkw in den vergangene­n Jahren in Berlin kontinuier­lich gestiegen ist, einen Volksentsc­heid über die Frage anstrengen, ob die gesamte Innenstadt

innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings für Autos gesperrt werden soll. Ausnahmen würde es beispielsw­eise für Polizei, Taxis, Handwerker, mobilitäts­eingeschrä­nkte Personen und zwölf Mal im Jahr für private Fahrten von allen geben. Vergangene Woche wurde bekannt, dass der Berliner Senat den Vorschlag der Initiative für nicht vereinbar mit dem Grundgeset­z hält. Auch wenn die Initiative glaubt, dass der Berliner Verfassung­sgerichtsh­of das anders sehen wird und sie weiter Unterschri­ften sammelt, gibt es nicht wenige Berliner, die von der Vision eines autofreien Berlins wenig überzeugt sind. Auch Berlins Regierende Bürgermeis­ter Franziska Giffey (SPD) sagte, dass Berlin für sie nicht Bullerbü sei.

Zurück auf der Kreuzberge­r Wrangelstr­aße zeigt sich zumindest temporär, wie es aussieht, wenn der öffentlich­e Raum dem Auto wieder abgetrotzt wird. Zurzeit immer freitags für drei Stunden wird ein Abschnitt für Autos gesperrt und als Spielstraß­e genutzt. Wenn Kinder hier auf den Asphalt malen, Skateboard fahren oder Ball spielen, dann sieht man, dass doch ein bisschen Bullerbü in Berlin steckt.

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