Der Kiez als Testlabor
In Berlin drängen Anwohner auf die Verkehrswende in ihren Wohnquartieren
Ü ber die Kreuzberger Wrangelstraße schiebt sich am Montagvormittag der Verkehr. Der Paketzusteller parkt in zweiter Reihe. Eine Schulklasse auf Berlinfahrt schlendert umher, die Blicke wandern entlang der Fenster der Geschäfte und Gastronomie, die sich hier aneinanderreihen im nicht nur bei Touristen beliebten Kiez. Ein Radfahrer fährt im Slalom um sie herum. Dieser kann weiterfahren, wo für den Paketzusteller mit seinem Transporter Schluss ist: Quer über die Kreuzung erheben sich rot-weiße Poller aus dem Asphalt.
Diagonalsperren heißen sie im Verkehrsjargon. Sie zwingen Autofahrer zum Abbiegen und sollen die Nebenstraßen von Wohnquartieren für den motorisierten Durchfahrtsverkehr unattraktiv machen. Nicht nur im Wrangelkiez sind die Poller für viele Anwohner aber nur ein erster Schritt. Wie hier gibt es mittlerweile berlinweit über 50 Nachbarschaftsinitiativen für sogenannte Kiezblocks. Die Idee stammt aus Barcelona und sieht vor, dass ganze
Wohnviertel mit Ausnahmen für Autos gesperrt werden. Dabei geht es auch darum, den öffentlichen Raum vor der Haustür anders zu verteilen: Breite Fahrspuren sollen dann Spielplätzen und Gemeinschaftsgärten weichen.
»Einen fertigen Kiezblock gibt es noch nicht in Berlin«, sagt Antje Heinrich vom Verein Changing Cities, der die einzelnen Kiezblock-Initiativen unterstützt. Zwar seien vielerorts bereits Sperren für den Durchgangsverkehr aufgestellt worden. Eine Umgestaltung der Straßen, die die Wünsche der Anwohnerschaft berücksichtigt, stehe aber noch am Anfang, erklärt sie. Das liegt auch daran, dass die personellen und finanziellen Kapazitäten der Bezirksämter begrenzt sind.
Straße für Straße vorzugehen, ist aber lediglich ein Ansatz. Seit dem vergangenen Jahr wagt die Initiative »Berlin autofrei« den Griff nach dem großen Besteck. Sie will, vor dem Hintergrund, dass die Zahl der zugelassenen Pkw in den vergangenen Jahren in Berlin kontinuierlich gestiegen ist, einen Volksentscheid über die Frage anstrengen, ob die gesamte Innenstadt
innerhalb des Berliner S-Bahn-Rings für Autos gesperrt werden soll. Ausnahmen würde es beispielsweise für Polizei, Taxis, Handwerker, mobilitätseingeschränkte Personen und zwölf Mal im Jahr für private Fahrten von allen geben. Vergangene Woche wurde bekannt, dass der Berliner Senat den Vorschlag der Initiative für nicht vereinbar mit dem Grundgesetz hält. Auch wenn die Initiative glaubt, dass der Berliner Verfassungsgerichtshof das anders sehen wird und sie weiter Unterschriften sammelt, gibt es nicht wenige Berliner, die von der Vision eines autofreien Berlins wenig überzeugt sind. Auch Berlins Regierende Bürgermeister Franziska Giffey (SPD) sagte, dass Berlin für sie nicht Bullerbü sei.
Zurück auf der Kreuzberger Wrangelstraße zeigt sich zumindest temporär, wie es aussieht, wenn der öffentliche Raum dem Auto wieder abgetrotzt wird. Zurzeit immer freitags für drei Stunden wird ein Abschnitt für Autos gesperrt und als Spielstraße genutzt. Wenn Kinder hier auf den Asphalt malen, Skateboard fahren oder Ball spielen, dann sieht man, dass doch ein bisschen Bullerbü in Berlin steckt.