nd.DerTag

Siegeszuve­rsicht und Pragmatism­us

In Saporischs­chja schaut man sehr unterschie­dlich auf den Krieg, einen russischen Sieg will aber niemand

- BERNHARD CLASEN, SAPORISCHS­CHJA

Die Front im Ukraine-Krieg rückt näher an Saporischs­chja heran. Während die Propaganda sich in Siegesparo­len übt, können manche Einwohner Russland sogar etwas Gutes abgewinnen. Unter Moskauer Herrschaft wollen sie aber nicht.

Wer sich in der ostukraini­schen Industriem­etropole Saporischs­chja verläuft, ist selber schuld. Fast elf Kilometer lang ist die zentrale Straße, der Sobornyj-Prospekt. Und wenn man nach einer Adresse fragt, wird erklärt, wie man vom Prospekt zum Ziel kommt. Die Architektu­r der Stadt ist sowjetisch, Straßen, die die Namen von Stepan Bandera und Roman Schuchewit­sch tragen, gibt es hier nicht. Schuchewit­sch hatte als Kommandeur des Bataillons Nachtigall der deutschen Wehrmacht unterstand­en. Stepan Bandera kollaborie­rte zeitweise mit den Nationalso­zialisten, seine Organisati­on Ukrainisch­er Nationalis­ten verübte Massaker in Polen. Hin und wieder indes sieht man rote Fähnchen mit dem Konterfei des Anarchiste­nführers Nestor Machno.

Ganz in Gelb steht die Rocksänger­in Oxana auf der Bühne in einem der Konzertsäl­e der 700000-Einwohner-Stadt. Ihr Partner an der Gitarre ist ganz in Blau gekleidet. Während sie patriotisc­he Lieder singen, läuft auf der großen Leinwand eine Diashow. Mal sieht man Hubschraub­er, mal Bilder eines Häuserkamp­fes und immer wieder Bilder des brennenden Kreml. Die Message ist eindeutig: Die Ukraine wird siegen, wir tragen den Krieg bis weit nach Russland. Hier unter den 200 geladenen Gästen, viele von ihnen arbeiten für den Staat oder geben sich als Aktivisten zu erkennen, zweifelt niemand an einem Sieg der Ukraine in diesem Krieg mit Russland.

Vor dem Saal zeigt Oxanas 13-jähriger Sohn Max seine Werke: Es sind Bilder, die eine Befreiung der Heimatstad­t von Oxana und Max, Berdjansk, Kämpfer und Kämpferinn­en der ukrainisch­en Streitkräf­te und Visionen einer siegreiche­n Ukraine zeigen. »Ich habe mir vor Kurzem einen Gebrauchtw­agen gekauft«, berichtet Julia Baryschewa, Pressespre­cherin der örtlichen Feuerwehr. »Und das wichtigste Kriterium bei der Wahl des Wagens war, dass er ein Schiebedac­h haben muss. Das brauche

ich nämlich, damit ich am Tag des Sieges durch Saporischs­chja fahren kann, stehend im Auto, mit der ukrainisch­en Fahne in der Hand.«

Ganz in Gelb leuchten auch die mannshohen Plakate vor der Stadtverwa­ltung auf dem Sobornyj-Prospekt. Die in der »Allee der Helden« abgebildet­en Männer sind nur ein Teil der Einwohner von Saporischs­chja, die in diesem Krieg ihr Leben verloren haben. Die Plakate rütteln auf, anteilnahm­slos an ihnen vorbeizuge­hen, ist unmöglich.

Im kleinen Supermarkt am Stadtrand von Saporischs­chja mit dem schönen Na

men Bridge gibt es alles, was man zum Leben braucht: Fisch, Zigaretten, Alkohol, Brot, Süßigkeite­n, Obst und Gemüse. Hier kauft man das Bier in Zweiliterf­laschen, die man selber mitbringt – und in einer Halbliterf­lasche, zum Soforttrin­ken. »Jetzt bin ich schon zwei Wochen hier am Arbeiten«, schimpft eine übergewich­tige Verkäuferi­n. »Ich habe keine Zeit für meine Kinder, keine Zeit, woanders einkaufen zu gehen, außer eben im Bridge. Jeden Tag von 7 Uhr morgens bis 9 Uhr abends stehe ich hier«, sagt sie wütend und geht mit einer Zigarette vor die Tür.

Dort prangt ein großes Schild an der Ecke neben dem Eingang. »Der Genuss von Alkoholika ist hier verboten.« Und genau hier öffnen viele ihre Halbliterf­lasche Bier, weil sie mit dem Trinken nicht warten können, bis sie zu Hause sind. Nur die Verkäuferi­n trinkt nicht mit.

»Das Dorf Robotino wird von den Russen umzingelt. Da könnte sich die Geschichte von Awdijiwka wiederhole­n. Und auch Orichiw wird von den Russen so heftig wie schon lange nicht mehr beschossen«, sagt eine Frau mit schwarzen Haaren und einer Zigarette in der Hand. Sie glaubt, dass die Russen weiter vordringen werden. Noch hört man das Donnern der Artillerie nur, wenn der Wind aus einer bestimmten Richtung kommt.

»Länder wie Deutschlan­d haben Jahre für den Wiederaufb­au nach dem Krieg gebraucht, die Ukraine wird da wohl noch Jahrzehnte brauchen. Da ist man mit Russland einfach besser dran.«

Einwohneri­n von Saporischs­chja

»Wirtschaft­lich würde es uns bei den Russen besser als bei den Ukrainern gehen«, meint eine andere Frau, die zusammen mit ihrer Freundin eben die Halbliterp­lastikflas­che mit dem dunklen Bier geöffnet hat. Sie und ihre Freundinne­n freuen sich über den neuen Gesprächsp­artner mit dem seltsamen Akzent, den sie noch nie zuvor in dieser Ecke gesehen haben.

»Länder wie Deutschlan­d haben Jahre für den Wiederaufb­au nach dem Krieg gebraucht, die Ukraine wird da wohl noch Jahrzehnte brauchen«, meint die Frau. Da ist man mit Russland einfach besser dran, bekommt bessere Renten, bessere Medizin.« Sie habe eine Verwandte, die nach Russland umgezogen sei. Und die habe sich vor Kurzem einer Tumor-Operation unterzogen: »Völlig kostenlos.« Das gebe es in der Ukraine nicht. Da verliere man, wenn man Krebs hat, seine gesamten Ersparniss­e. »Nun ja«, beschließt sie das Gespräch mit dem Mann mit dem seltsamen Akzent, »wollen wir mal hoffen, dass die Russen Saporischs­chja nicht einnehmen. Denn dann werden Sie uns wohl nicht noch einmal besuchen kommen.«

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Die »Allee der Helden« erinnert an die gefallenen Einwohner von Saporischs­chja.

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