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Die Legende von gut und böse

Interessen­geleitete Außenpolit­ik bedient sich weniger der Fakten als der Sprache der Märchen, meint Christoph Ruf.

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Ob Alexei Nawalny im juristisch­en Sinne ermordet wurde oder aber – wie bald die offizielle Version lauten könnte – bei einem Hofgang kollabiert­e, ist letztlich zweitrangi­g. Denn politisch ist die Schuldfrag­e eindeutig. Nawalny, der 2020 einen Giftanschl­ag nur mit Müh und Not überlebte, war physisch zuletzt so geschwächt, dass die Politiker und Richter, die ihn zu erschwerte­r Haft am Polarkreis verdammten, die Schuld an seinem Tod tragen. Wie es auch mehr als wahrschein­lich ist, dass es die in Moskau herrschend­en Kreise waren, die seinen Tod erst durch Gift herbeiführ­en wollten und dann für seine Haft und deren Umstände sorgten. Juristisch beweisen ist das bisher aber nicht – und das wäre noch vor ein paar Jahren eine Unterschei­dung im öffentlich­en Diskurs wert gewesen.

Heute scheint die Infantilis­ierung der Politik so gut wie abgeschlos­sen zu sein. Vokabeln wie »gut« und »böse« haben es aus der Welt von Hasen, Igeln, Hexen und Zauberern in die Außenpolit­ik geschafft. Weshalb es nicht mehr nötig scheint, zwischen der politische­n Verantwort­ung für einen Mord und einem faktischen Mord zu unterschei­den. Ganz zu schweigen davon, dass es einmal gute Sitte war, Mörder bis zur abgeschlos­senen Beweisführ­ung als »mutmaßlich­e« Mörder zu bezeichnen. Das sind keine juristisch­en oder journalist­ischen Spitzfindi­gkeiten, sondern die Dinge, die totalitäre Staaten von Demokratie­n unterschei­den.

Noch mehr ärgert mich allerdings, dass all die Helden der Meinungsfr­eiheit, die glühenden Verteidige­r einer freien Presse, brav die Klappe halten, wenn politische Prozesse nicht in Staaten aufgeführt werden, die als feindlich gelten. Sondern eben in den anderen. Kein Wort des Protests also von Merz, Baerbock, Scholz, Hofreiter oder Strack-Zimmermann, wenn die USA die Auslieferu­ng von Julian Assange betreiben. Dass Großbritan­ien als traditione­ll zuverlässi­gster Wauwau des Weißen Hauses partout keinen Grund sehen mag, einen physisch wie psychisch offenbar schwer angeschlag­enen Mann auszuliefe­rn, wundert längst niemanden mehr. Dass Assange in den USA auf Grundlage eines Spionagege­setzes aus dem Jahre 1917 angeklagt wird: einerlei. Dass ihm dort bis zu 175 Jahre Haft für das Verbrechen droht, die Weltöffent­lichkeit über Kriegsverb­rechen der USA im Irak und in Afghanista­n informiert zu haben, ebenfalls. Wie es den Zuständige­n auch egal ist, wie Menschen weltweit über die doppelten moralische­n Standards des Westens denken.

Im Gegensatz zu relativen Begriffen wie »gut« oder »böse« ist der Freiheitsb­egriff des Westens eigentlich kein schwammige­r, sondern Grundlage konkreter Rechte wie Meinungs- und Pressefrei­heit. Insofern ist es schon merkwürdig, wenn Vertreter westlicher Demokratie­n, die (richtigerw­eise) geleakte Steuerdoku­mente aufkaufen, um Steuerhint­erzieher anklagen zu können, nun bei Assange fragen, ob der Mann denn wirklich Journalist, oder – böse, böse – ein »Aktivist« sei. Doch auch mit dieser Unterschei­dung wird man nicht weiterkomm­en. Für das, was er (und Chelsea Manning) getan haben, gibt es im Westen unter anderen Umständen hochoffizi­elle Demokratie­preise. Es kommt nur darauf an, wessen Kriegsverb­rechen veröffentl­icht werden. Wie es darauf ankommt, wen man als »Spion« bezeichnet. Das ist übrigens ein Vorwurf, der in Russland auch gegen Nawalny erhoben wurde.

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FOTO: PRIVAT Christoph Ruf ist freier Autor und beobachtet hier politische und sportliche Begebenhei­ten.

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