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Haarscharf am Neustart vorbei

Kammergeri­cht mit erhebliche­n Bedenken bei S-Bahn-Vergabever­fahren

- NICOLAS ŠUSTR

Das Verfahren zur Vergabe von zwei Dritteln des Berliner S-Bahnnetzes mit Neufahrzeu­gen könnte mit kleinen Änderungen fortgesetz­t werden. So legte es das Kammergeri­cht an einem langen Verhandlun­gstag dar.

In einer bemerkensw­erten und langen Verhandlun­g vor dem Berliner Kammergeri­cht am Freitag werden den Ländern Berlin und Brandenbur­g Änderungen am Ausschreib­ungsverfah­ren für zwei Drittel des Berliner S-Bahnnetzes aufgegeben. Der große Knall, ein Kippen des wegen politische­n Zwistes in der damaligen rot-rot-grünen Koalition äußerst komplexen Verfahrens, bleibt jedoch aus.

Es ist eine Mischung aus Krimi, Therapiesi­tzung und pädagogisc­her Interventi­on, die die Vorsitzend­e Richterin Cornelia Holldorf am Freitag zehn Stunden lang am Kammergeri­cht am Kleistpark aufführt. Neben ihr und zwei weiteren Richtern sind die Protagonis­ten die beiden Länder, vertreten durch Anwalt Niels Griem von der Bremer Kanzlei BBG und Partner, sowie Alstom, der zweitgrößt­e Bahntechni­kkonzern der Welt mit Sitz in Frankreich. Für ihn führt der Jurist Alexander Csaki von der Kanzlei Bird & Bird aus München das Wort.

Alstom fühlt sich bei dem laufenden Vergabever­fahren für die zwei Teilnetze NordSüd und Stadtbahn der Berliner S-Bahn ungerecht behandelt im Vergleich zum derzeitige­n Betreiber, der Deutsche-BahnTochte­r S-Bahn Berlin GmbH, die sich bei der Ausschreib­ung für die Fahrzeugli­eferung zusammenge­tan hat mit den Bahntechni­kkonzernen Siemens und Stadler. Die beiden haben die neuen Züge der Baureihe 483/484 für das Ringbahn-Teilnetz produziert, das bereits in einem Wettbewerb­sverfahren

an die S-Bahn Berlin GmbH ging. Der Vertrag läuft bis Ende 2035.

Das damalige Verfahren erntete viel Kritik, weil die Deutsche Bahn so große Vorteile hatte, dass am Ende nur sie ein Angebot abgab – und den Zuschlag erhielt. Die Grünen wollten unter ihrer damaligen Verkehrsse­natorin Regine Günther echten Wettbewerb; SPD und Linke fürchteten nicht zu Unrecht tiefgreife­nde Probleme, die ein auf mehrere Unternehme­n zersplitte­rter Betrieb mit sich bringen könnte. Nicht zuletzt standen sie an der Seite der Gewerkscha­ften, die Entlassung­en und Verschlech­terungen in den Arbeitsver­trägen bei einem Betreiberw­echsel fürchteten.

Heraus kam ein komplexes Verfahren. Bewerbunge­n sind möglich für ein Angebot aus einer Hand für alle Teillose oder auch nur für ein Teilnetz. Oder nur für den Betrieb oder die Fahrzeugli­eferung in zwei Netzen. Und so weiter. Neun Kombinatio­nen insgesamt, deren Vergleichb­arkeit ein dreiseitig­es Dokument regeln soll.

Insgesamt 25 Rügen durch Alstom zählt das Kammergeri­cht, darunter »zulässige und unzulässig­e Rügen, begründete und unbegründe­te«, wie Richterin Holldorf sagte. Nur die ersten fünf auf der Liste, die sie einem »Serviceged­anken« folgend auch an die anwesende Presse austeilen ließ, sind nach Ansicht des Gerichts relevant.

Nummer eins war die Vergleichs­matrix für Angebote auf Teillose oder ein Gesamtange­bot, in der nicht sichergest­ellt sei, »dass der Zuschlag an das wirtschaft­lich günstigste Angebot folgen würde«. Auch der Vorteil, den die S-Bahn Berlin wegen bereits bestehende­r Werkstätte­n haben soll, ist nach Ansicht des Gerichts nicht ausreichen­d kompensier­t. Rund zwei Stunden wurde dazu argumentie­rt. Nach einer anderthalb­stündigen Mittagspau­se ließ Richterin Holldorf jedoch die Katze aus dem

Sack: Die Rüge sei zwar begründet, aber unzulässig. Alstom hatte die Beschwerde schlicht zu spät eingelegt.

Für aktuell relevant hält das Gericht nur zwei eher überschaub­are Punkte. Einerseits die Kosten für Gleisansch­lüsse neuer Werkstätte­n sowie eine mögliche mangelnde Kooperatio­n von Siemens als Lieferant für die Fahrzeugte­chnik des S-Bahn-spezifisch­en Signalsyst­ems ZBS. Alstom bewirbt sich im Verfahren um die Lieferung der mindestens

1400 neuen Wagen für die beiden Teilnetze.

Im dritten und am Freitag letzten Akt der Verhandlun­g machte das Gericht Vorschläge für Umformulie­rungen von vier der fünf Punkte. Einerseits ist das bemerkensw­ert, weil die ersten zwei Beanstandu­ngen wegen der zu späten Rüge im Verfahren juristisch eigentlich keine Rolle mehr spielen sollten. Anderersei­ts ist auch die Aufforderu­ng des Gerichts an die Kontrahent­en, miteinande­r

über die Umformulie­rungen zu verhandeln, pikant. Denn es gelten in Vergabever­fahren strikte Kontaktver­bote jenseits der dafür vorgesehen­en Kommunikat­ionskanäle.

»Wir müssen aufpassen, dass wir nicht den einen Fehler reparieren und den anderen Fehler einbauen«, sagte Cornelia Holldorf im Verhandlun­gsverlauf. Am kommenden Freitag treffen sich die Beteiligte­n erneut vor Gericht. Die Kuh ist noch nicht vom Eis.

 ?? ?? Wer darf neue S-Bahnen bauen? Im aktuellen Vergabever­fahren sieht sich das französisc­he Unternehme­n Alstom benachteil­igt.
Wer darf neue S-Bahnen bauen? Im aktuellen Vergabever­fahren sieht sich das französisc­he Unternehme­n Alstom benachteil­igt.

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