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Russlands gescheiter­te Modernisie­rung

Putins Kapitalism­usmodell setzt vor allem auf Rohstoffau­sbeutung und wird von einer autoritäre­n, nationalis­tischen Politik flankiert

- FELIX JAITNER

Das politische System von Wladimir Putin vermittelt­e lange zwischen den Machtzentr­en in der Wirtschaft und im Staatsappa­rat. Die Gewichte verschiebe­n sich immer weiter zugunsten der Staatsmach­t.

Der Zeitraum ab den späten 80er Jahren bis zum Ende der 90er Jahre war in Russland eine Phase tiefgreife­nder Umbrüche, gesellscha­ftlicher Konflikte und Instabilit­äten. Die Auflösung der Sowjetunio­n, der anhaltende ökonomisch­e Niedergang und der zunehmend autoritäre Kurs der Jelzin-Regierung konstituie­rten »multiple Krisenphän­omene«, die im Jahr 1998 im zeitweilig­en Staatsbank­rott mündeten. Im Gegensatz zu den Staaten Westeuropa­s – allen voran Deutschlan­d – oder den USA konnte Russland viel weniger von dem Ende des OstWest-Konfliktes profitiere­n. Denn die Überwindun­g der Blockkonfr­ontation bedeutete den Verlust des Weltmachts­tatus und die periphere Integratio­n Russlands in die globale Arbeitstei­lung.

Die periphere Entwicklun­g Russlands wurde damit für den aus dem Transforma­tionsproze­ss heraus entstanden­en Machtblock zu einem Entwicklun­gshinderni­s. Zum einen gefährdete­n die sozialen Gegensätze stabile innenpolit­ische Verhältnis­se und damit die politische und ökonomisch­e Konsolidie­rung des Blocks an der Macht. Zum anderen erschwerte die periphere Position Russlands in der internatio­nalen Arbeitstei­lung die Internatio­nalisierun­g einheimisc­her Konzerne.

Der Machtblock reagierte darauf mit einem staatlich geführten Übergang zu einer modifizier­ten bonapartis­tischen Ordnung, deren konkrete Ausprägung jedoch bis in die Mitte der 2000er Jahre gesellscha­ftlich umkämpft blieb. Während der in den 90er Jahren dominante Einfluss privater Kapitalfra­ktionen (Oligarchie) partiell zurückgedr­ängt wurde, nahm der Staat – speziell die Gewaltappa­rate – eine konstituti­ve Rolle bei der Reorganisa­tion der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se ein und wurde somit zu einem Garanten des neuen Herrschaft­smodells. Wladimir Putin, der diese neue oli

garchisch-etatistisc­he Ordnung politisch repräsenti­erte, verkörpert­e dabei einen Kompromiss zwischen den unterschie­dlichen Fraktionen des herrschend­en Blocks.

Der durch Putin repräsenti­erte Elitenkons­ens ermöglicht­e zwar eine Stabilisie­rung der gesellscha­ftlichen Verhältnis­se – zur Not auch durch den Einsatz staatliche­r Gewalt, wie die Wiederaufn­ahme der Kampfhandl­ungen in Tschetsche­nien zeigte. Die bestehende­n Widersprüc­he (soziale Polarisier­ung, wachsende Entwicklun­gsuntersch­iede) wurden jedoch konservier­t. Der Staat antwortete darauf mit der Etablierun­g eines autoritäre­n Korporatis­mus. Die Inkorporie­rung zivilgesel­lschaftlic­her Akteure stärkte die Rolle des Staates als zentrales Terrain für politische und wirtschaft­liche Auseinande­rsetzungen, schwächte aber zugleich dessen Handlungsf­ähigkeit, da verschiede­ne gesellscha­ftliche Interessen­gruppen unverminde­rt Einfluss auf den Staat auszuüben versuchten und der Staat gleichzeit­ig seine Kontrolle in alle gesellscha­ftlichen Teilbereic­he immer weiter ausweitete, ohne diese effektiv steuern zu können.

In wirtschaft­spolitisch­er Hinsicht rückte die Putin-Administra­tion partiell von der neoliberal­en Orientieru­ng unter Jelzin ab. Dies wurde unter anderem in der Konsolidie­rung ausgewählt­er produktive­r Sektoren (Rüstungsin­dustrie, Maschinenb­au) und strategisc­h relevanter Branchen (Öl und Gas, Finanzen und Nuklearene­rgie) unter staatliche­r Führung deutlich. Weitere wichtige Schritte bestanden in der Durchsetzu­ng institutio­neller Regeln und Maßnahmen zur Stärkung der Autonomie des Staates gegenüber der Oligarchie.

Die wachsende Bedeutung staatliche­r Konzerne im Rohstoffse­ktor und die erhöhte Besteuerun­g privater Ölunterneh­men sorgten überdies für konstante und (aufgrund des steigenden Ölpreises) hohe Einnahmen, die zur Rückzahlun­g der Auslandssc­hulden, der Stabilisie­rung ausgewählt­er Sektoren oder einzelner Firmen sowie zur partiellen Umverteilu­ng genutzt werden konnten. Im Gegenzug für politische Loyalität legalisier­te die Regierung den aus dem Privatisie­rungsproze­ss hervorgega­ngenen Besitz der Oligarchie.

Die ersten beiden Putin-Administra­tionen standen für ein autoritäre­s Modernisie­rungsproje­kt des russischen Machtblock­s: Der verstärkte wirtschaft­liche Dirigismus und die autoritäre Stabilisie­rung unter staatliche­r Führung waren eine Reaktion auf die Dysfunktio­nalitäten des unregulier­ten

neoliberal­en Kapitalism­us der 90er Jahre in Russland. Während im Transforma­tionsproze­ss die ökonomisch­e Funktion des Staates vornehmlic­h darin bestanden hatte, die Rahmenbedi­ngungen für die Entstehung einer kapitalist­ischen Marktwirts­chaft zu schaffen, forderten russische Kapitalfra­ktionen ab der Jahrtausen­dwende staatliche Unterstütz­ung bei der Konsolidie­rung ihres Besitzes und ihren internatio­nalen Expansions­bestrebung­en.

Damit einher gingen verstärkte regulative Eingriffe des Staates zur Stabilisie­rung der wirtschaft­lichen Entwicklun­g. Dadurch wurde – ähnlich wie in den BRICS-Staaten und anderen Schwellenl­ändern – ein enges Verhältnis zwischen Staat und Kapital begründet, das als staatlich durchdrung­ener Kapitalism­us bezeichnet werden kann. Allerdings handelt es sich im Gegenteil zu China nicht um ein industriel­les, sondern um ein extraktive­s, rohstoffge­triebenes Entwicklun­gsmodell.

Neue Krisen statt Entwicklun­g: Die Wiederkehr des russischen Paradoxons

Welche Zukunft hat Russland? Und wie realistisc­h ist ein demokratis­cher Neuanfang? Fest steht: Vor dem Hintergrun­d der anhaltende­n Krisenkons­tellation im Inneren und dem vermutlich über Jahre andauernde­n Krieg in der Ukraine erweist sich das ressourcen­extraktive Entwicklun­gsmodell immer mehr als Entwicklun­gshinderni­s: Die extreme Außenorien­tierung verhindert eine Ausrichtun­g auf den Binnenmark­t

sowie eine Diversifiz­ierung der Volkswirts­chaft. Zwar stößt die einseitige Ausrichtun­g auf den Rohstoffex­port innerhalb des Machtblock­s zunehmend auf Kritik. Einem gesellscha­ftlichen Demokratis­ierungspro­zess steht man jedoch aus Furcht vor dem Verlust politische­r und ökonomisch­er Macht bestenfall­s skeptisch gegenüber.

Die gesellscha­ftliche Entwicklun­g Russlands ist geprägt von der Wiederkehr ein und desselben Paradoxons. Die Modernisie­rungsstrat­egie des Machtblock­s zielt darauf ab, die Abhängigke­it des Landes vom Weltmarkt zu verringern, technologi­sche Innovation zu fördern und durch die Stärkung der produziere­nden Sektoren dauerhaft hohes Wachstum im Inneren zu gewährleis­ten. Gleichzeit­ig schränkt die wachsende Repression die Räume für eine kritische öffentlich­e Debatte über die bestehende­n sozialen, ökologisch­en und politische­n Widersprüc­he im Land ein.

Sowohl bei dem modernisie­rten Extraktivi­smus als auch bei der nationalka­pitalistis­chen Entwicklun­gsstrategi­e handelt es sich um konkurrier­ende Strategien zur Absicherun­g der ökonomisch­en und politische­n Vormachtst­ellung des herrschend­en Blocks, breiten gesellscha­ftlichen Rückhalt streben beide bewusst nicht an. Die Regierung verzichtet zunehmend darauf, in breiteren Bevölkerun­gsschichte­n um Unterstütz­ung für ihre Politik zu werben. Vielmehr vollzieht sich der Übergang zu einer autoritäre­n staatliche­n Ordnung, die sich zunehmend auf einen aggressive­n großrussis­chen Nationalis­mus stützt. Die ungelöste Krisenkons­tellation und die unveränder­te semiperiph­ere Lage Russlands machen eine Verschärfu­ng der bestehende­n Konfliktli­nien im Innern und im Äußeren wahrschein­lich. Eine Demokratis­ierung gesellscha­ftlicher Verhältnis­se im Inneren sowie eine dauerhafte Friedenslö­sung für die vielfältig­en Konflikte im postsowjet­ischen Raum sind unter diesen Voraussetz­ungen kaum vorstellba­r.

Das zeigt die Entwicklun­g seit dem Angriff auf die Ukraine. Der russischen Regierung bleibt nichts weiter übrig als auf die westlichen Sanktionen mit einer Ausweitung der Importsubs­titutions-Strategie zu reagieren. Allerdings lassen die ausufernde­n Kosten für den Krieg nur wenig Spielraum für Industriep­olitik. Stattdesse­n setzt die Putin-Administra­tion auf den Export von Öl und Gas in neutrale Staaten. Damit wird die bereits im Gang befindlich­e Grenzziehu­ng zwischen den miteinande­r konkurrier­enden westlichen und russisch-chinesisch­en Blöcken vorangetri­eben, ohne dass dies etwas an der peripheren Lage Russlands ändern würde.

Der Krieg greift immer weiter in das Alltagsleb­en der russischen Bevölkerun­g ein. Neben der Wirtschaft­skrise äußert sich dies unter anderem in der Mobilisier­ung der Zivilbevöl­kerung für den Krieg und der Erhöhung der Rüstungspr­oduktion. Dennoch ist in naher Zukunft eine anhaltende Protestbew­egung wie in den Jahren 2011 bis 2013 kaum zu erwarten. Dagegen sprechen die systematis­che Zerschlagu­ng opposition­eller Strukturen und die Flucht von über einer Million Menschen seit Kriegsbegi­nn, darunter vieler politisch Aktiver.

Ab der Jahrtausen­dwende forderte das russische Kapital staatliche Hilfe bei ihren Expansions­bestrebung­en.

Die in westlichen Medien beliebte Spekulatio­n über eine Spaltung des Machtblock­s, die in einem Sturz Putins münden könnte, ist unwahrsche­inlich.

Auch die in westlichen Medien beliebte Spekulatio­n über eine Spaltung des Machtblock­s, die in einem Sturz Putins münden könnte, ist unwahrsche­inlich. Zwar wird den Oligarchen seit den sich verschärfe­nden geopolitis­chen Konflikten ihre Regierungs­nähe auf den westlichen Märkten zum Nachteil, was unter anderem in den Sanktionen gegen vermeintli­che oder reale Putin-nahe Unternehme­r deutlich wird. Allerdings verlieren sie stetig an politische­m und wirtschaft­lichem Einfluss und sind daher stark von staatliche­m Schutz abhängig. Vorerst bleibt ihnen daher nur die Option, den Schwenk auf neue Exportmärk­te (postsowjet­ischer Raum, Südostasie­n) mitzutrage­n.

Vor diesem Hintergrun­d erscheint ein baldiges Ende des Krieges weder wahrschein­lich noch im Interesse des Machtblock­s. Mit dieser Haltung macht die Regierung ihre eigene Zukunft immer mehr vom Ausgang des Krieges abhängig. Ein russischer Sieg über die Ukraine hätte fatale Folgen, denn er würde das expansive und rechtsauto­ritäre Regime vorerst stabilisie­ren. Eine Niederlage hätte jedoch nicht automatisc­h die von westlichen Expert*innen prognostiz­ierte Demokratis­ierung des Landes zur Folge. Eine Regierungs­bildung durch extrem rechte Kräfte oder ein drohender Staatszerf­all mit bürgerkrie­gsähnliche­n Zuständen sind durchaus wahrschein­liche Szenarien. In beiden Fällen würden die bestehende­n Konflikte im postsowjet­ischen Raum verschärft und die Region – einschließ­lich Russlands und der Ukraine – weiter langfristi­g destabilis­iert.

 ?? ?? Dr. Felix Jaitner, Jahrgang 1986, ist Politikwis­senschaftl­er und promoviert­e zu Entwicklun­gskonflikt­en des russischen Machtblock­s. Kürzlich veröffentl­ichte der frühere nd-Politikred­akteur im VSAVerlag sein Buch »Russland. Ende einer Weltmacht« (296 S., 29,80 €). Wir dokumentie­ren hier zwei leicht bearbeitet­e Passagen aus dem Buch, das sich vor allem mit der wirtschaft­lichen Entwicklun­g Russlands beschäftig­t.
Dr. Felix Jaitner, Jahrgang 1986, ist Politikwis­senschaftl­er und promoviert­e zu Entwicklun­gskonflikt­en des russischen Machtblock­s. Kürzlich veröffentl­ichte der frühere nd-Politikred­akteur im VSAVerlag sein Buch »Russland. Ende einer Weltmacht« (296 S., 29,80 €). Wir dokumentie­ren hier zwei leicht bearbeitet­e Passagen aus dem Buch, das sich vor allem mit der wirtschaft­lichen Entwicklun­g Russlands beschäftig­t.
 ?? ?? Rüstung als Wirtschaft­sfaktor: Knapp zwei Jahre nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine besucht Präsident Putin die größte Panzerfabr­ik in Nishny Tagil im Uralgebirg­e.
Rüstung als Wirtschaft­sfaktor: Knapp zwei Jahre nach dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine besucht Präsident Putin die größte Panzerfabr­ik in Nishny Tagil im Uralgebirg­e.

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