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Als ganzer Mensch leben zu wollen

Über Beitrittsb­ürgerinnen und die Frauenfrag­e – Zahlen und Fakten

- URSULA SCHRÖTER Dr. Ursula Schröter ist Mathematik­erin und Soziologin und hat zahlreiche Publikatio­nen zum sozialisti­schen Patriarcha­t veröffentl­icht, vgl. auch »Fragen zur Systemfrag­e« in der Zeitschrif­t »Luxemburg« 4/2022.

Als die DDR der Bundesrepu­blik Deutschlan­d beitrat, wurde sehr schnell sichtbar, dass sich das Frauenlebe­n in den vier DDR-Jahrzehnte­n mehr verändert hatte als das Männerlebe­n. Die Unterschie­de zwischen Ostfrauen und Westfrauen waren groß, als sie sich 1990 gegenübers­tanden und die Hände hätten reichen können.

Zwei Zahlen fielen damals besonders auf: Erstens betrug der Anteil der Berufstäti­gen und Lernenden an allen DDR-Frauen des entspreche­nden Alters reichlich 90 Prozent. Das heißt, die hauptamtli­che Hausfrau gab es so gut wie nicht mehr. DDR-Frauen trugen zum Zeitpunkt des Beitritts zu mehr als 40 Prozent zum Haushaltse­inkommen bei (BRD-Frauen zu weniger als 20 Prozent). Zweitens betrug auch die Mütterrate in der DDR Ende der 80er Jahre reichlich 90 Prozent. Das heißt, fast alle Frauen hatten am Ende ihrer fertilen Phase mindestens ein Kind. Die »gewollte« Kinderlosi­gkeit, vor allem bei hoch qualifizie­rten Frauen, die in allen westlichen Ländern beklagt wurde, gab es in der DDR nicht.

Aus Kinderwuns­ch-Befragunge­n der 70er und 80er Jahre geht hervor, dass sich die jungen DDR-Menschen in hohem Maße ihre individuel­len Kinderwüns­che erfüllten. Und die lagen mehrheitli­ch und ohne Berücksich­tigung der bevölkerun­gspolitisc­hen Vorgaben bei zwei Kindern. Selbstvers­tändlich, dass eine solche Entwicklun­g öffentlich­e Kinderbetr­euung voraussetz­t. Ende der 80er Jahre lag die Betreuungs­quote der Drei- bis Sechsjähri­gen bei 95 Prozent und der bis Dreijährig­en bei 80.

Gleichwohl war die anfänglich­e Begeisteru­ng der DDR-Menschen für das Ende ihres Staates groß – für die D-Mark, für Reisefreih­eit, für liberale Demokratie, für kapitalist­ische Produktion­sverhältni­sse … Im April/Mai 1990 signalisie­rten, das belegen unterschie­dliche Bevölkerun­gsbefragun­gen, etwa 80 Prozent ihr Einverstän­dnis mit den gesellscha­ftlichen Umbrüchen, Männer und Frauen gleicherma­ßen.

Das änderte sich schnell – zuerst und vor allem bei Frauen, wohl weil die plötzlich einsetzend­e Arbeitslos­igkeit zunächst zu zwei Dritteln Frauen betraf und weil meist noch vor dem Arbeitspla­tz die sozialen Dienste im Betrieb (Kinderbetr­euung, Einkaufsmö­glichkeite­n, Mittagesse­n-Versorgung usw.) »abgewickel­t« wurden. Die Jüngeren reagierten mit Gebärstrei­k, viele auch mit Wanderung in die westlichen Bundesländ­er. Mehr als drei Millionen Ostdeutsch­e zogen nach 1990 in den Westen – wie vor dem Mauerbau überwiegen­d junge und gut ausgebilde­te, anders als vor dem Mauerbau überwiegen­d Frauen.

Inzwischen ist das Wanderungs­geschehen zur Ruhe gekommen und sind Ostdeutsch­e herangewac­hsen, die die DDR nur aus Erzählunge­n kennen. In wenigen Jahren wird die neue größere Bundesrepu­blik so alt sein, wie die DDR geworden ist. Umso erstaunlic­her, dass Spuren der DDR-Frauenpoli­tik noch immer zu erkennen sind.

Zunächst ein Blick auf die Mütterrate. Wie reagieren Ostdeutsch­e in dieser Hinsicht auf eine Gesellscha­ft, in der der Bedarf an öffentlich­er Kinderbetr­euung (wie im jüngsten Regierungs­bericht zum Stand der deutschen Einheit wieder hervorgeho­ben wurde) deutlich über dem Angebot liegt? 2022 erreichte lediglich Thüringen für Dreibis Sechsjähri­ge eine Betreuungs­quote von 92 Prozent. Alle anderen Bundesländ­er, insbesonde­re die westlichen, sind diesbezügl­ich weit entfernt vom DDR-Niveau.

Dennoch ist die »gewollte« Kinderlosi­gkeit eher ein Westproble­m, jedenfalls bisher. So betrug 2018 die Mütterrate im Osten zwar nicht mehr 90 Prozent, aber in Thüringen 87 und in Brandenbur­g 84 (die anderen ostdeutsch­en Länder liegen dazwischen), während sich die Skala in den westlichen Ländern vom Saarland mit 81 Prozent bis Hamburg mit 69 Prozent erstreckt. Die Expert*innen in der demografis­chen Forschung halten sich allerdings mit Trendaussa­gen bei diesem Thema zurück. Kann schon sein, dass auch im Osten Kinderlosi­gkeit zunehmen wird. Bezüglich des Alters der Mutter bei der Geburt des ersten Kindes (30 Jahre und älter) gibt es jetzt schon kaum Ost-West-Unterschie­de.

Zur Erinnerung: In den 70er Jahren waren DDR-Frauen im Durchschni­tt 22 Jahre alt (BRD-Frauen 25 Jahre), wenn das erste Kind geboren wurde.

Im Unterschie­d dazu ist ein Trend hinsichtli­ch weiblicher Berufstäti­gkeit klar erkennbar. Noch immer gibt es im Osten die hauptamtli­che Hausfrau so gut wie nicht. Der zweite Gleichstel­lungsberic­ht der Bundesregi­erung von 2017 hält dazu fest: »Im Unterschie­d zur Mehrheit der Frauen in Westdeutsc­hland scheinen Frauen in Ostdeutsch­land das Alleinernä­hrer-Arrangemen­t abzulehnen.« Richtig ist, sie lehnen es ab und scheinen auch Frauen in Westdeutsc­hland damit zu beeindruck­en. So ergab eine Untersuchu­ng des DIW von 2020: »In der DDR sozialisie­rte Menschen, die nach Westdeutsc­hland gezogen sind, haben vermutlich Einstellun­gen zur Vereinbark­eit von Familie und Beruf in Westdeutsc­hland beeinfluss­t.«

Deshalb beträgt die Erwerbsquo­te (eine Kennziffer, die es in der DDR nicht gab und die auch Arbeitslos­e umfasst) der Frauen 2020 im Osten 80 Prozent und im Westen immerhin 77. Hier ist zu berücksich­tigen, dass die weibliche Erwerbstät­igkeit (auch ein Begriff, den es in der DDR nicht gab, weil es bei der Berufstäti­gkeit nicht nur um den Erwerb ging) in Ost und West unterschie­dlichen Umfang hat. Im Westen sind derzeit mehr als 15 Prozent der erwerbstät­igen Frauen ausschließ­lich geringfügi­g beschäftig­t, im Osten deutlich weniger. Dennoch gilt: Das Alleinernä­hrer-Arrangemen­t wird auch von Frauen in Westdeutsc­hland immer häufiger abgelehnt, vor allem in den Regionen, in denen sich Ost und West direkt begegnen können.

Die Zahlen und Fakten können unterschie­dlich interpreti­ert werden. Für mich

enthalten sie die Aufforderu­ng, erneut kritisch über das Konzept nachzudenk­en, nach dem der Sozialismu­s des 20. Jahrhunder­ts funktionie­ren sollte. Dass die Frauenfrag­e Teil der Klassenfra­ge ist, wie die Werke von Friedrich Engels und August Bebel nahelegen, lässt sich auf Grundlage der aktuellen Zahlen zur weiblichen »Erwerbsnei­gung« nicht belegen. Denn wir haben kapitalist­ische Klassenver­hältnisse; auch im Osten, nachdem die Treuhand mehr als 95 Prozent des DDR-Volkseigen­tums privatisie­rt bzw. liquidiert hatte.

Die Frauen aber bleiben bei ihrem im Sozialismu­s erworbenen »radikalen Anspruch, als ganzer Mensch leben zu wollen«, wie Christa Wolf 1977 mit Blick auf Maxi Wanders Protokollb­and geschriebe­n hatte. Bereits in den 80er Jahren wies die 2013 verstorben­e österreich­isch-amerikanis­che Historiker­in und Kommunisti­n Gerda Lerner nach, »dass die Engels’sche Gleichsetz­ung der Geschlecht­erbeziehun­gen mit einem ›Klassenant­agonismus‹ eine Sackgasse gewesen ist, die die Theoretike­r (sic) lange an einem adäquaten Verständni­s der Unterschie­de zwischen Klassenbez­iehungen und Geschlecht­erbeziehun­gen gehindert hat«.

Inzwischen leben wir in einer kriegstüch­tigen Welt, die eine neue Utopie bitter nötig hat. Eine Utopie, die sich heute nicht nur auf die Arbeiterbe­wegung beziehen darf, die die Ansprüche aller Menschenre­chtsbewegu­ngen und ihre Zusammenhä­nge reflektier­en muss.

Bald wird die neue größere Bundesrepu­blik so alt sein, wie die DDR geworden ist. Umso erstaunlic­her, dass Spuren der DDRFrauenp­olitik noch immer zu erkennen sind.

 ?? ?? Nicht nur Traktoren steuerten Frauen in der DDR, auch Lokomotive­n, Busse, Taxis – in der alten BRD undenkbar; Aufnahme von 1975.
Nicht nur Traktoren steuerten Frauen in der DDR, auch Lokomotive­n, Busse, Taxis – in der alten BRD undenkbar; Aufnahme von 1975.

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