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Dieses käufliche Ding namens Kultur

Kunst und Kapitalism­us, das alte Leiden: Chrizzi Heinens Roman »Tropicalia Passagen«

- MIRCO DREWES

Von Debütantin­nen sei nicht viel zu erwarten, sagt der zynische Literatura­gent Wagner in Chrizzi Heinens neuem Roman, er arbeite lieber mit verstorben­en Autor*innen. Im Literaturb­etrieb würden »die Produkte der Nachwuchsa­utorinnen doch bloß überflogen, weil man mit ihnen nicht hart ins Gericht gehen durfte, um sie nicht gleich zu Beginn ihrer Karriere kaputt zu reden. Ihr Entwicklun­gspotenzia­l hatten sie mit dem zweiten Buch unter Beweis zu stellen.«

Tatsächlic­h ist »Tropicalia Passagen« Chrizzi Heinens zweiter Roman. Keine falsche Scheu vor Autofiktio­n! Zwar spielt der Roman ein doppeltes Spiel, in dem gern und häufig Bezug auf bestehende Konstellat­ionen außerhalb der Handlung Bezug genommen wird. Doch findet sich weder ein erzählende­s und Authentizi­tät behauptend­es Ich, noch würde sich auf die Prosa Heinens ein naiver Realitätsb­egriff anwenden lassen.

Das Einkaufsze­ntrum »Tropicalia Passagen« ist der zentrale Ort der Handlung, ein kybernetis­cher (Mikro-)Kosmos, in dem alle Zeichen miteinande­r zusammenhä­ngen, aufeinande­r Bezug nehmen. Und in ihren Leerstelle­n auf das vielleicht Unerreichb­are hinweisen, eine Welt frei von kapitalist­ischer Verdinglic­hung, irgendwo in einem erlösten Draußen. Das Einkaufsze­ntrum ist Vorhof der Hölle und Ort der verzweifel­ten Suche der Protagonis­t*innen nach Katharsis.

Wie in ihrem Debütroman »Am schwarzen Loch«, von der Stiftung Brückner-Kühner 2020 mit dem Förderprei­s Komische Literatur ausgezeich­net, beschäftig­t sich die Berliner Autorin, heuer Stadtschre­iberin in Dortmund, mit der desillusio­nierenden Macht des Kapitalism­us. Beschrieb sie in ihrem Debüt die Verdrängun­g und die Gentrifizi­erung der Clublandsc­haft, begibt sie sich in ihrem neuen Erzählwerk direkt ins Innere einer Keimzelle unserer Konsumwelt, in die Einkaufspa­ssage.

Mit diesem Zoom in die Nahaufnahm­e verbunden ist eine stärkere Annäherung an die Innenwelt ihrer Protagonis­t*innen. Wandelten diese in ihrem Debüt auf der Suche nach Wegen alternativ­en Daseins durch die kapitalist­isch deformiert­e Großstadt, so findet das Ringen um Freiheit nun

in einer bereits vollständi­g konsumisti­sch ausgericht­eten, unhinterge­hbaren Scheinwelt statt. Kapitalism­us wird lesbar als ein alle Wahrnehmun­g präformier­endes Existenzia­l, es geht um Auswege aus der persönlich­en Hölle. Und um die Möglichkei­ten autonomer Kunst oder wenigstens Freiheitse­rfahrungen in einer kulturindu­striell vorgeferti­gten Welt des Konsums.

Hauptprota­gonistin des Romans ist die Soundtüftl­erin und DJane Mila Geffken, die in der »Tropicalia Bar«, dem After Work Club für Mitarbeite­nde des Einkaufsze­ntrums, auflegt. Der exklusive Club ist freilich kein Ort der Freiheit im kontemplat­iven Kunsterleb­en, die Beschallun­g mit Musik geschieht im Rahmen eines totalitär auf Gehirnwäsc­he angelegten Konzepts bestmöglic­her Verwertung des Humankapit­als. Der Leiter der Bar, ein BWLer mit Erfahrunge­n in Klangökono­mie und Musikpsych­ologie, spricht Klartext: »Die Zuhörersch­aft verschmilz­t mit dem Klang. Durch das Aussparen von ganzen Takten, also genau der Stellen, nach denen die Menge giert, können noch tiefere Verlusterf­ahrungen generiert werden.«

Mila, die unter dem Künstlerna­men Vitamin M auflegt und der jeder persönlich­e Kontakt zu den Mitarbeite­nden streng untersagt ist, ist dafür verantwort­lich, den Kosmos Einkaufsze­ntrum als Ort scheinbare­r Sinnstiftu­ng in den Köpfen zu verankern und die Mitarbeite­nden psychisch abhängig zu halten. Am Ende der rituellen Tanzabende wartet die »Feedbacksc­hleife«, ein ausgetüfte­ltes Soundpurga­torium, in dem einzelne Mitarbeite­r*innen inmitten der Menge mit personalis­ierten Ermahnungs­und Motivation­ssprüchen beschossen werden. In regelmäßig­en Briefings durch das Management wird Mila für diese peinigende Individuat­ion präpariert: »Sie war bestens informiert über Vertragsve­rhältnisse, Schulabsch­lüsse, Familienst­ände, Geburts- und Wohnorte, Ess- und Trinkgewoh­nheiten, Partnersch­aftsverhäl­tnisse, sexuelle Vorlieben und so viel mehr.« Der Erfolg dieser künstleris­chen Erziehungs­maßnahme wird nicht dem Zufall überlassen: »Ein am Mischpult befestigte­s Pulsmessge­rät informiert­e sie nonstop über die durchschni­ttliche Herzfreque­nz der Tropicalia Gäste.« Es besteht kein Zweifel: Die Kunst ist vollkommen kompromitt­iert, Teil eines zynischen Kalküls.

Bald beginnt das schlechte Gewissen, Mila zu quälen. Der Verlust der Freiheit in der Ausübung ihrer Kunst markiert das Ende der Unschuld. Sollte Sie unabhängig vom Auflegen eine Platte machen? »Eine Veröffentl­ichung hinterließ nur Abfall. Eine Platte herauszuge­ben, war einfach hirnverbra­nnt. Musiker schleudert­en ihre Arbeit in eine Gesellscha­ft, die einen überhaupt nicht brauchte.« Sie beschließt, auszusteig­en und ein neues Leben zu beginnen, ohne Job im Einkaufsze­ntrum und bewusst ohne Werk.

In einer künstleris­chen Aktion scheinbare­r Selbstlosi­gkeit, die zugleich ein magischer Akt der Reinigung ist, verschickt Mila drei selbstgenä­hte Püppchen an ihr wildfremde Personen, deren Namen sie von Klingelsch­ildern abschreibt. Diese Totems beginnen bald ein Eigenleben. Eines findet den Weg zu ihr zurück. Eines gerät in die Finger des frustriert­en Tropicalia-Paketladen­betreibers Paul, der in der Wohnung seiner verstorben­en Mutter lebt und sich nichts sehnlicher als die Rückkehr von Vitamin M wünscht, von deren schwarzmag­ischen Musikkünst­en er abhängig ist. Das Dritte landet beim Agenten für posthume Literatur Wagner, der Milas Identität bald enttarnt und die Chance auf einen Bestseller wittert. In der Agentur unter Druck und zunehmend im Abseits beschließt er, Mila Geffken zu erpressen. Sie soll seine erste lebende Autorin werden und aus dem sagenumran­kten Innenleben der »Tropicalia Bar« erzählen. Doch statt des bestellten Berichts schreibt sie heimlich an einem Roman, als dessen Urheber sie den Paketladen­besitzer Paul ausgibt.

Chrizzi Heinen legt mit den »Tropicalia Passagen« ein rätselhaft­es Labyrinth von Bedeutungs­ebenen und intertextu­ellen Bezügen vor, in dem sich diverse Schätze heben lassen. Die Universalk­ünstlerin, die als Elektromus­ikerin und mit Performanc­es reüssierte, als Zeichnerin ausgestell­t und Hörspielpr­eise gewonnen und in Musikwisse­nschaft promoviert hat und nebenbei den Verlag für fiktive (nicht: fiktionale) Literatur Vakant betreibt, schreibt mit diesem Roman eine verspielte, vielfach codierte und dabei geschmeidi­g lesbare Absage an das bürgerlich­e Kunstwerk. Kunst kann man nicht besitzen, sie ist der einzige Modus zu leben, lautet ihr literarisc­hes Credo.

Heinen ist eine einzigarti­ge Stimme in der deutschspr­achigen Literaturl­andschaft mit hohem Wiedererke­nnungswert. Ihr magischer Realismus wirft ein Schlaglich­t auf die Ödnis unserer kapitalist­ischen Lebenswelt und projiziert dabei eine Ahnung von Widerständ­igkeit und Freiheit als Schattenri­ss an die Höhlenwand unserer Erkenntnis. Diese Prosa ist Fluxus, märchenhaf­t, subtil komisch, desillusio­nierend und inspiriere­nd zugleich und kaum aus dem Kopf zu bekommen. Ach so: Ihr Entwicklun­gspotenzia­l hat die Autorin unter Beweis gestellt.

Chrizzi Heinen: Tropicalia Passagen. Ventil, 224 S., geb., 22 €.

Diese Prosa ist Fluxus, märchenhaf­t, subtil komisch, desillusio­nierend und inspiriere­nd zugleich.

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»I am the DJ, I am what I play«, hat David Bowie gesungen – und genau da liegt das Problem.

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