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Comeback der Atom-Lobby

In der EU wollen vor allem französisc­he Industriek­onzerne neue Kernkraftw­erke bauen Von Niger bis Brüssel – die Interessen von EDF, Framatome und Orano reichen sehr weit. Dabei sind neue Atomreakto­ren nur mit staatliche­n Milliarden­subvention­en wettbewerb­s

- HERMANNUS PFEIFFER

In der Europäisch­en Union sind mit rund 100 Reaktoren etwa ein Viertel aller Atomkraftw­erke weltweit in Betrieb. In 12 der 27 Mitgliedst­aaten werden Kernkraftw­erke betrieben, zeigt eine Aufstellun­g des Umweltmini­steriums in Wien. Österreich betreibt kein AKW und macht sich Sorgen wegen grenznaher Ausbauplän­e beim Nachbarn Tschechien. Obwohl aus interessie­rten Kreisen eine ganze Reihe von Neubauplän­en ventiliert werden, sind in nur zwei Mitgliedst­aaten Kernkraftw­erke tatsächlic­h in Bau: in Frankreich (Baubeginn 2007), der Slowakei (Baubeginn 2009) und ganz neu in Ungarn.

Einige Mitgliedst­aaten haben allerdings einen mehr oder weniger massiven Ausbau der Kernenergi­e angekündig­t. Besondere Interessen verfolgt dabei Frankreich­s Wirtschaft. In der EU ist es das Land mit den meisten Reaktoren (56). Betreiber ist die staatliche Électricit­é de France (EDF), eines der größten Energieunt­ernehmen der Welt.

Reaktoren brauchen Brennstoff. Das dafür benötigte Uran fördert und bereitet die Orano-Gruppe in Paris auf, die zu 90 Prozent dem französisc­hen Staat gehört. Sie betreibt unter anderem Fabriken im nordwestaf­rikanische­n Niger, in denen das vor Ort abgebaute Uran weitervera­rbeitet wird. Auch spanische, japanische und chinesisch­e Unternehme­n stellen in der früheren französisc­hen Kolonie Halbfertig­produkte für Brenneleme­nte her. Noch weit schwergewi­chtiger als Niger – der siebtgrößt­e Uranförder­er – ist Kasachstan. Annähernd die

Hälfte der weltweiten Uranproduk­tion findet dort statt, berichtet die World Nuclear Associatio­n. Der riesige Flächensta­at, eingezwäng­t zwischen Russland und China, gilt als wichtigste­r Lieferant auch westeuropä­ischer Atom-Firmen.

Oranos Vorgänger Areva hatte nach dem Ende des AKW-Booms in Europa ab 2002 mit Siemens zusammenge­arbeitet, um den ausgedünnt­en Weltmarkt zu bespielen. Der deutsche Konzern zog sich zwar später aus dem Neubau zurück, gilt aber weiterhin als wichtiger Lieferant. So hält Siemens Energy offenbar an laufenden Verträgen mit dem russischen Atomkonzer­n Rosatom fest, die nicht unter die EU-Sanktionen fallen. Projekte, die sich noch im Bau befinden und außerhalb von Russland fertiggest­ellt werden, beliefert Siemens Energy weiterhin mit wichtigen Bauteilen. Das bestätigte Aufsichtsr­atschef Joe Kaeser im Herbst 2023 in einem Interview. Im Mittelpunk­t des Interesses stehen aktuell die beiden Atomkraftw­erksblöcke, die Rosatom in Ungarn baut und für die Siemens Energy das Steuerungs­system liefern soll. Mit dem Bau wurde laut des Infodienst­es »Ungarn heute« vor gut einem halben Jahr begonnen.

Beteiligt an dem Projekt ist auch das französisc­he Unternehme­n Framatome, das ebenfalls aus Areva hervorgega­ngen ist und mehrheitli­ch EDF und dem japanische­n Konzern Mitsubishi gehört. Der Konzern bietet umfassende Lösungen für die Entwicklun­g, den Bau und die Instandhal­tung von Kernkraftw­erken an. Eine Tochterges­ellschaft des Kerntechni­kkonzerns unterhält drei Standorte in Deutschlan­d.

Weltweit stagniert die Stromerzeu­gung aus Kernenergi­e, zeigt der von einem Expertente­am erstellte »World Nuclear Industry Status Report 2023«. Der »Nischenmar­kt« werde weiterhin von China und Russland beherrscht: »In den letzten vier Jahren wurde weltweit kein einziger Baubeginn registrier­t, der nicht in China stattfand oder von der russischen Industrie durchgefüh­rt wurde«, heißt es in dem Bericht.

Ein Grund: Der Neubau von großen Atomkraftw­erken gilt als »unrentabel«, wie es beim Deutschen Institut für Wirtschaft­sforschung heißt. So sind die Kosten etwa für das von EDF federführe­nd gebaute AKW Hinkley Point in Großbritan­nien auf über 50 Milliarden Euro sprunghaft angestiege­n. Die Inbetriebn­ahme kann nach mehreren Bauverzöge­rungen frühestens 2029 erfolgen. Damit der Atomstrom aus dem Südwesten Englands gegenüber »grünen« Strom überhaupt wettbewerb­sfähig wird, hat die britische Regierung weitere jahrzehnte­lange Subvention­en in Milliarden­höhe zugesicher­t.

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