nd.DerTag

Berliner Schulen: Gewalt liegt im System

Strukturel­le soziale Ungleichhe­it fördert gewalttäti­ge Auseinande­rsetzungen an Schulen

- LUISE KRÜPE

Eine Statistik der Berliner Polizei zu angeblich mehr Gewalt an Schulen sorgte Anfang der Woche für Aufruhr. Bildungsar­beiter*innen können das nicht bestätigen.

»Dass sich die Gewalt insgesamt verschärft haben soll, deckt sich nicht mit meinen Erfahrunge­n«, erzählt Gökhan Akgün, der in der Gewerkscha­ft Erziehung und Wissenscha­ft (GEW) Vorstand des Personalra­tes der allgemeinb­ildenden Schulen in Friedrichs­hain-Kreuzberg ist, gegenüber dem »nd«. Akgün widerspric­ht damit einer am vergangene­n Montag vorgestell­ten Statistik der Berliner Polizei.

Nach dieser ist die Zahl der erfassten Gewalttate­n an Berliner Schulen in den vergangene­n Jahren deutlich gestiegen. Es liegen allerdings weder endgültige Zahlen für 2023 vor noch sind diese mit denen der Jahre zuvor aufgrund der Corona-Pandemie gut vergleichb­ar. Wie viele Polizeiein­sätze an den Berliner Schulen begründet waren, geht aus den Statistike­n ebenfalls nicht hervor.

Die Schule sei ein Spiegel der Gesellscha­ft, meint Akgün weiter. »Eine Welt, in der Krieg und politische Spannungen auf der Tagesordnu­ng stehen, hat natürlich Auswirkung­en auf Schüler*innen. Gewalt ist ein Resultat von Spannungen und diese entstehen vor allem durch soziale Ungleichhe­iten.« Ein zentraler Grund, warum Bildungsin­stitutione­n nicht nachhaltig auf die jungen Menschen eingehen können, liege am altbekannt­en Mangel an Ressourcen: »Der Bedarf an Erzieher*innen überschrei­tet sogar den an Lehrkräfte­n«, so Akgün.

»Bildungsin­stitutione­n reproduzie­ren immer auch soziale Hierarchie­n, was bei vielen jungen Menschen zu einem Gefühl von Machtlosig­keit führt«, erzählt Akgün weiter. Es gebe keine Kapazität, mit den Kindern ins Gespräch zu kommen, um über ihre Ängste zu reden: »Wenn dafür kein Raum ist, staut sich alles auf und das fördert natürlich Frust, der in Gewalt enden kann.« Gerade in Zeiten eines Krieges, in dem viele Kinder in Berlin durch familiären Bezug zu Palästina wahrschein­lich mindestens einen geliebten Menschen verloren haben, sei dieser Raum essenziell.

Neben den unzureiche­nden Ressourcen, um Begegnungs­möglichkei­ten in Schulen zu schaffen, gebe es auch keine ausreichen­den Kooperatio­nen mit sozialen Trägern für mehr niedrigsch­wellige Sport-, Kunst-, Kultur- und Therapiean­gebote, um jungen Menschen ein Ventil für Emotionen und Teilhabe an der Gesellscha­ft zu ermögliche­n, so Akgün.

Zwar gibt es das sogenannte Bildungsun­d Teilhabepa­ket, welches Zugang zu ebensolche­n Angeboten verbessern soll. Eine empirische Erhebung vom paritätisc­hen Wohlfahrts­verband zeigt aber, dass es im Bundesdurc­hschnitt nur bei 18 Prozent der dafür berechtigt­en Kinder ankommt. Das liege nach Akgün daran, dass es keine gute Strategie gibt, die Eltern über ihren Anspruch darauf aufzukläre­n und beim hohen bürokratis­chen Aufwand ausreichen­d zu unterstütz­en.

Dabei ist eine Unterstütz­ung für mehr soziale Teilhabe mehr als notwendig, denn schon in der Grundschul­e merke man, dass sich prekäre Ressourcen der Familien und auffällige­s Verhalten der Kinder oft gegenseiti­g bedingen, beschreibt Annika Schlögl ihre Eindrücke aus ihrem Berufsallt­ag als Lehrerin einer Grundschul­e in Marzahn. Auch Gewalt, die junge Menschen zu Hause selbst erfahren – was in ihrer Grundschul­e keinen Einzelfall darstelle –, kann mit aggressive­m Verhalten von Kindern zusammenhä­ngen.

Der Umgang mit Gewalt an Schulen ist hauptsächl­ich symbolisch. Zwar wird »Gewaltpräv­ention« im seit dem Schuljahr 2022/2023 gültigen Lehrplan B für Berliner Gymnasien aufgeführt. »Die Politik agiert im Bildungsbe­reich aber hauptsächl­ich reaktiv statt präventiv« meint Fred, der Workshops an Berliner Schulen mit leitet, um queerfeind­liche Gewalt zu reduzieren. Die Schulen müssen feste Strukturen schaffen, um für alle möglichen Diskrimini­erungen zu sensibilis­ieren, damit Gewalt vorgebeugt werden kann, meint er.

Durch Forderunge­n des Bundesvors­itzenden der Deutschen Polizeigew­erkschaft, die Strafmündi­gkeit auf zwölf Jahre zu senken sowie die Notwendigk­eit nach Wachschutz an Schulen zu betonen, wie es Kai Wegner nach einer Schlägerei an einer Berliner Schule im letzten Jahr für richtig hielt, wird den jungen Menschen abgesproch­en, selbst auch Opfer sein zu können: Opfer eines diskrimini­erenden Systems, das junge Menschen im Stich lässt und unfähig ist, ihnen einen sicheren Raum zum Lernen zu schaffen. Sie tauchen hauptsächl­ich als Täter in einer Statistik auf, deren Validität anzuzweife­ln ist.

»Die Schule ist ein Spiegel der Gesellscha­ft.«

Gökhan Akgün Personalra­t GEW

 ?? ?? Ein Hort der Gewalt? Treppenhau­s einer Berliner Grundschul­e
Ein Hort der Gewalt? Treppenhau­s einer Berliner Grundschul­e

Newspapers in German

Newspapers from Germany