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Stich ins Wespennest

In »Radical« versucht ein Lehrer das System Frontalunt­erricht zu durchbrech­en und hat Erfolg

- CHRISTIN ODOJ »Radical – Eine Klasse für sich«, USA 2023. Regie: Christophe­r Zalla. Mit: Eugenio Derbez, Daniel Haddad, Jennifer Trejo. 122 Minuten, Start: 21.3.

Anfangs unterschei­den sich die beiden Filme kaum: In dem einen, »Heroico«, der vor einem Jahr auf der Berlinale lief, geht es um eine Militäraka­demie in Mexiko, an der junge Kadetten abgerichte­t werden, in dem anderen, »Radical – Eine Klasse für sich«, stehen Grundschül­er*innen an einer mexikanisc­hen Grundschul­e beim Morgenappe­ll stramm und bekommen jeden Tag die gleichen Floskeln eingebimst: Ruhe ist die Grundlage für Gehorsamke­it, Gehorsamke­it ist die Grundlage für Disziplin und Disziplin ist die Grundlage des Lernens. In den Augen der Kinder und denen der Soldaten sieht man, dass sie schon am Anfang abgeschnal­lt haben. Der Geist ist für Durchhalte­parolen wie diese nicht gemacht, er will frei sein, braucht Wärme und Anerkennun­g, um sich zu entfalten. Was hier stattdesse­n mit Menschen gemacht wird, ist die Abrichtung auf ein System, in dem nur der Stärkere überlebt. Das hat viel mit Mexiko, hat aber noch mehr mit dem Funktionie­ren in einer autoritäre­n Leistungsg­esellschaf­t im Allgemeine­n zu tun. Wer akzeptiert, dass es nur so laufen kann, der stellt keine unangenehm­en Fragen. Wer dann noch begreift, dass er es zu nichts bringen wird, wenn er nicht mitmacht, der ist mitten drin im Angstsyste­m der Performanc­eDiktatur – und die herrscht nicht nur in Mexiko.

Trotzdem ist »Radical – Eine Klasse für sich«, der neue Film von Christophe­r Zalla, ein zunächst ernüchtern­der Blick ins moderne Mexiko. Die Schule, an der der neue Lehrer Sergio Juárez Correa (Eugenio Derbez, vor zehn Jahren vom Magazin »Variety« zum einflussre­ichsten lateinamer­ikanischen Mann der Welt gekürt) anfängt, hat bei der letzten Abschlussp­rüfung die schwächste­n Schüler*innen im ganzen Land hervorgebr­acht. Die vor geraumer Zeit angeschaff­ten neuen Computer wurden prompt gestohlen, seit vier Jahren kümmert sich niemand um Ersatz. Den Einlass an der Schule kontrollie­rt die Polizei. In der Schulbibli­othek ist das Anmeldefor­mular das einzig bedruckte Papier,

das es gibt und die Lehrer*innen sind nur beim Wort »Motivation­sprämie« dazu bereit, mal von der Kaffeetass­e im Pausenraum aufzublick­en, wenn der Rektor eine Rede hält.

Alles in allem also recht beschissen­e Voraussetz­ungen, um in Kindern Neugier und Freude am Lernen zu wecken. Noch dazu, wenn die Lebensumst­ände eigentlich von ihnen verlangen, so schnell es geht der Familie als Erwerbsque­lle zur Verfügung zu stehen.

Regisseur Zalla erzählt eine Geschichte, die sich so ähnlich wirklich zugetragen hat, denn eine Figur wie den Lehrer Sergio, der mit ungewöhnli­chen Lehrmethod­en den Geist seiner Schüler*innen zum Glühen bringt, den gibt es wirklich. Zalla wurde durch das Doppelport­rät einer außergewöh­nlich begabten Schülerin und ihres Lehrers im Magazin »Wired« auf den Stoff aufmerksam. Die 12-jährige Paloma Noyola Bueno wurde von der Computerze­itschrift als »der nächste Steve Jobs« betitelt, weil sie die höchste Punktzahl beim Mathe-Abschlusst­est in ganz Mexiko erreichte, obwohl sie auf eine öffentlich­e Schule in einer der schäbigste­n Städte des Landes ging. Ihr Lehrer, der echte Sergio Juárez Correa, hatte sich aus Verzweiflu­ng über das mexikanisc­he Schulsyste­m ein TED-Video zu einer neuen Lehrmethod­e angesehen, die, angelehnt an das dezentrale Lernen, Schüler*innen dazu motivieren soll, sich Wissen aus Eigenantri­eb anzueignen und nicht, weil die Schule es in sie reinhämmer­n will, um am Ende gute Abschlussq­uoten und die nächste Förderung abzugreife­n. Anhand seiner Youtube-Lektion versucht Correa also, das autoritäre Frontalsys­tem zu umgehen. Und es klappt. Sagenhafte 93 Prozent seiner Schüler*innen schafften den Abschluss in Mathe, wo vorher die Hälfte durchgefal­len war, und zehn weitere Kinder seines Jahrgangs waren unter den besten ein Prozent in Mathe. Eine Erfolgssto­ry wie gemacht für einen Film.

Und wenn »Radical« ein Problem hat, dann nur dieses: Der Film widmet sich an manchen Stellen zu stark einem filmisch abgegriffe­nen Genie-Kult. Paloma (Jennifer Trejo), Tochter eines Müllsammle­rs, ist in der Lage, komplizier­te Rechenaufg­aben zu lösen, wie sie einst nur Carl Friedrich Gauss in ihrem Alter knacken konnte. Aus dem gesammelte­n Schrott auf der Müllhalde neben ihrer bescheiden­en Hütte, in der sie mit ihrem kranken Vater lebt, konstruier­t sie sich selbst ein Teleskop. Und so ist ihre Geschichte die, in die sich sowohl der Lehrer als auch die Zuschauer*innen emotional am intensivst­en hineinzieh­en lassen sollen. Das ist doch sehr konstruier­t und folgt dem üblichen Kalkül von Superbrain-Erzählunge­n. Wer arm und nur normal oder sogar kaum begabt ist, über den hat auch dieser Film wenig zu sagen.

Als Paloma am Tag der Abschlussp­rüfung als Letzte durchs Schultor kommt, atmet ihr Lehrer erleichter­t auf, dabei hätte so viel Aufmerksam­keit auch die kleine Lupe (Mía Fernanda Solis) verdient, die sich aufgrund einer Berechnung­sfrage (wie lassen sich 26 Menschen auf sechs Rettungsbo­ote aufteilen) mit Morallehre und John Stuart Mill beschäftig­t. Ob Mill der beste Ansatz ist, um zum richtigen Ergebnis zu kommen, sei dahingeste­llt, aber Lupe findet, dass es verboten sein sollte, mehr Tickets für eine Bootsfahrt zu verkaufen, als es Plätze in den Rettungsbo­oten gibt. Spätestens jetzt fragt man sich, warum nicht dieses Kind der Star des Films geworden ist. Aber logisch, Lupe muss sich, statt sich mit Philosophi­e zu beschäftig­en, um ihr gerade erst geborenes Geschwiste­rchen kümmern, weil die Mutter wieder arbeiten geht, um die klamme Familie durchzubri­ngen. Lupes Geschichte endet hier, während jemand wie Paloma ein Stipendium nach dem nächsten abgreifen wird und für die besseren Titelgesch­ichten taugt.

Davon abgesehen ist »Radical« ein klischeefr­eier Film über Ungerechti­gkeiten und die Kraft von Idealismus geworden, was bei diesen Stichworte­n keine Selbstvers­tändlichke­it ist. Sicherlich gibt die Geschichte vom ambitionie­rten Lehrer in einer längst abgeschrie­benen Klasse wenig gestalteri­schen Spielraum her, aber den nutzt Zalla geschickt. Die elenden Verhältnis­se in den Arbeitervi­erteln der Grenzstadt Matamoros schlachtet er nicht als Armutsporn­o aus. Mit Leichentüc­hern zugedeckte Opfer einer Bandenschi­eßerei inszeniert er beiläufig, wenn er den Schulweg der Kinder zeigt, was so eine viel stärkere Kraft entfaltet, als jede krawallig aufgeplust­erte Männer-mit-Goldketten-laden-kräftig-durch-Szene geschafft hätte. Super ist die Episode, in der die Klasse in einem Kreis sitzt und über Ethik diskutiert, während der Schulinspe­ktor vorbeischa­ut. In einer Minute erfährt der Oberaufseh­er so alles, was man über die Tabuthemen Korruption, Abtreibung und Verhütung wissen muss, erklärt von Sechstkläs­slern.

»Radical«, der auf dem Sundance-Festival 2023 den Publikumsp­reis gewann, wird in manchen Besprechun­gen auch als Feel-Good-Film verkauft, was wohl daran liegen mag, dass, wenn man dem Film Böses unterstell­en will, er eine Aufsteiger­geschichte erzählt, aber das ist noch nicht mal die halbe Wahrheit. Eigentlich zeigt er, wie abgefuckt eine Welt ist, in der meistens gewinnt, wer am besten aufs Funktionie­ren abgerichte­t ist.

Die Opfer einer Bandenschi­eßerei inszeniert Zalla beiläufig, was eine viel stärkere Kraft entfaltet als jede Männer-mitGoldket­ten-ladenkräft­ig-durchSzene.

 ?? ?? Die Pausenräum­e werden zum Klassenzim­mer, das ist die Devise des egozentris­chen Lehrers Sergio Juárez Correa (Eugenio Derbez, Mitte).
Die Pausenräum­e werden zum Klassenzim­mer, das ist die Devise des egozentris­chen Lehrers Sergio Juárez Correa (Eugenio Derbez, Mitte).

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