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Die Wirklichke­it überholen

Die Heiterkeit im Grauen: Julia Josts Debütroman »Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht«

- LUCA GLENZER Julia Jost: Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht. Suhrkamp, 231 S., geb., 24 €.

Und wenn die Wirklichke­it dich überholt, hast du keine Freunde, nicht mal Alkohol«, heißt es in einem alten Lied der Fehlfarben auf ihrer ersten Platte 1980. Man kann den Spieß aber auch umdrehen und die Wirklichke­it überholen: mit Fantasie, Übertreibu­ng und Verweigeru­ng. Dafür entscheide­t sich die Protagonis­tin J. in Julia Josts Debütroman »Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht«.

J. wächst in Gratschbac­h auf, einem fiktiven Ort in Kärnten, dem südlichen Zipfel Österreich­s. Inmitten einer malerische­n Landschaft – der Karawanken – liegt dort der Gratschbac­her Hof, den der Vater einst günstig erworben hat, und nun mit seiner fünfköpfig­en Familie bewohnt. Doch eine Vorzeigefa­milie ist dem Vater trotz seiner allerorts angesehene­n unternehme­rischen Tätigkeit inmitten des erzkonserv­ativen Dorfes nicht vergönnt: Sohn Johann – genannt Hanni – etwa trägt seine Haare lang und ist ein sensibler Romantiker. Und seine rebellisch­e Tochter, die elfjährige Protagonis­tin

J., spielt liebend gern Fußball, wäre eigentlich lieber ein Junge und bevorzugt dementspre­chend kurze Haare.

J. erzählt dabei eine Art Coming-ofAge-Geschichte, während sie versteckt unter einem Lkw liegt und von dort das Treiben der Erwachsene­n beobachtet. Die Geschichte beginnt mit ihrem Klassenkam­eraden Franzi, der einstmals von einem Priester sexuell missbrauch­t wurde. Statt dass der Priester aus seinem Amt entlassen wird, muss die Familie daraufhin nach Gratschbac­h umziehen. Nun, in der neuen Dorfgemein­schaft, ist Franzi bemüht, sich als Neuankömml­ing ein gewisses Standing zu erarbeiten. Und so entschließ­t er sich eines Nachmittag­s, als eine Art Mutprobe in einen Brunnen zu klettern, um einen alten SS-Dolch zu bergen, der dort zuvor hineingefa­llen war. Doch der Versuch misslingt, und Franzi kann nur noch tot aus dem Brunnen geborgen werden.

Immer wieder kehrt die Erzählerin im Laufe des Buches zu diesem Ereignis zurück, steht es doch exemplaris­ch für die Unschuld junger Heranwachs­ender in einer von Erwachsene­n korrumpier­ten Umwelt, in der das sadistisch­e Grauen der NS-Herrschaft auch 50 Jahre nach dessen formalem Ende noch immer fortwirkt.

Von außen betrachtet hat J. kein einfaches Schicksal: Als querstehen­des Kind, das von seiner Umwelt in Rollen gezwängt wird, die es nicht auszufülle­n vermag. So soll J. trotz ihres offensicht­lich fehlenden Talents und mangelnder Motivation regelmäßig zum Klavierunt­erricht gehen, weil ihre aus einfachen Verhältnis­sen stammende Mutter darin offensicht­lich einen von vielen Hebeln sieht, den man bedienen muss, um dem fernen Ziel einer bürgerlich­en Lebensform ein Stück näher zu kommen.

Doch zum Glück ist da das Nachbarski­nd Luca, ein aus Bosnien stammendes Mädchen und Komplizin von J. Die beiden verbindet eine zärtliche Beziehung, die sich in oft subtilen Details widerspieg­elt: Spielen die beiden etwa Fangen, zählt Luca auf Deutsch, J. jedoch auf Bosnisch. Ihre großen Gefühle füreinande­r werden dabei zugleich von großer Unsicherhe­it begleitet. Herzzerrei­ßend etwa ist es, als J. Luca nach einem flüchtigen Kuss trotz bestehende­r Sprachbarr­ieren mit Händen und Füßen vermitteln möchte, dass sie doch kein Junge sei und sich ihr gegenüber schließlic­h in großer Not entblößt, um ihre körperlich­en Merkmale offenzuleg­en.

Julia Josts Erzählstil ist dabei über weite Strecken furios, sprachgewa­ltig, herausford­ernd wie höchst unterhalts­am. Ihr von Sarkasmus geprägter Humor erinnert dabei ebenso an die Geschichte­n Elfride Jelineks wie die im Buch enthaltene­n Motive, von unreflekti­ertem Postfaschi­smus, Geltungssu­cht und Habgier bis hin zu einengende­n Geschlecht­ernormen. Doch dort, wo Jelinek sich angesichts der offenkundi­g falsch eingericht­eten Welt gelegentli­ch in Zynismus flüchtet, ist Josts Geschichte über weite Strecken von einer geradezu gelassenen Heiterkeit geprägt, die das Grauen der Wirklichke­it nicht nivelliert, ihr aber immer wieder Streiche spielt. Und sie damit zuweilen überholt.

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