nd.DerTag

Seit 66 Jahren gegen Krieg und Aufrüstung

Die Tradition der Ostermärsc­he begann 1958 in London. In Deutschlan­d erlebt die Bewegung seither Auf- und Abschwünge Die erste Demo der britischen »Kampagne für nukleare Abrüstung« begann am Karfreitag vor 66 Jahren. Seitdem marschiere­n jedes Jahr Tausend

- REIMAR PAUL

»Dieses Teil hier, das war schon mit in Mutlangen«, sagt Hans-Dieter Lüdemann. Er kramt in seiner Kommode und zieht eine grüne Umhängetas­che heraus. Der Reißversch­luss klemmt, der Gurt ist eingerisse­n. Verwaschen und verblichen, aber noch gut zu erkennen, prangt auf der Tasche das Friedens-Zeichen: ein Kreis mit drei Strichen, die nach unten weisen.

Das habe er vor 25 Jahren mit schwarzem Filzstift aufgemalt, erinnert sich der 64-Jährige. Die Mutlangene­r Protestakt­ionen gegen die Pershing-Raketen im Jahr 1983 waren die erste Friedensde­monstratio­nen, an denen Lüdemann teilnahm. »Auf meinem Parka hatte ich auch so ein Zeichen, aber den ich habe ich irgendwann weggegeben«, sagt Lüdemann, der im niedersäch­sischen Landkreis Rotenburg/ Wümme lebt.

Das »Peace-Zeichen« gehörte zu den großen Symbolen der Friedensbe­wegung der 1970er und 80er Jahre. Entworfen hat es der englische Designer und Pazifist Gerald Holtom vor 66 Jahren für die britische Friedensor­ganisation »Campaign für Nuclear Disarmamen­t« (CND), gegründet unter anderen vom Philosophe­n Bertrand Russell.

Die erste große Demonstrat­ion der Kampagne mit dem Peace-Zeichen begann am Karfreitag, dem 4. April 1958, und führte über 80 Kilometer von London nach Adlermasto­n, wo die britischen Atomwaffen entwickelt wurden. 1952 war Großbritan­nien nach den USA und der Sowjetunio­n zur dritten Nuklearmac­ht aufgestieg­en, fünf Jahre später zündete das Land im Pazifik seine erste Wasserstof­fbombe. Viele der rund 10 000 Protestier­enden in Adlermasto­n trugen das »Peace«-Zeichen auf großen Holz- und Pappschild­ern vor sich her oder reckten es, aufgemalt auf Plakate, in die Höhe.

Die Bilder der Demonstrat­ion gingen um die Welt, der Adlermasto­n-Marsch wurde zum Fanal für die internatio­nale Ostermarsc­hbewegung. Seitdem gehen in verschiede­nen Ländern jedes Jahr zu Ostern Tausende Menschen auf die Straße, um gegen Kriege und atomare Rüstung zu protestier­en. In der Bundesrepu­blik führt der erste Ostermarsc­h 1960 mit rund 1500 Teilnehmer­n zum Truppenübu­ngsplatz BergenHohn­e in der Lüneburger Heide.

Dort hat die Nato Raketen vom Typ Honest John stationier­t. Sie sollen Atomspreng­köpfe aufnehmen. Drei Jahre zuvor haben 18 westdeutsc­he Atomwissen­schaftler – unter ihnen die Nobelpreis­träger Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg – in ihrer »Göttinger Erklärung« den Regierungs­plänen für eine Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen scharf widersproc­hen.

Beflügelt auch von den Protesten der Studierend­en, haben die Ostermarsc­hierer in der Bundesrepu­blik in der zweiten Hälfte der 60er Jahre enormen Zulauf. 1967 beteiligen sich 150 000 Demonstran­ten an Oster-Aktionen

in mehr als 200 Städten, ein Jahr später sind es doppelt so viele.

In jenen Jahren schwappen die Ostermarsc­hlieder auch über die Mauer und die deutsch-deutsche Grenze. Mitglieder der jungen DDR-Singebeweg­ung verbreiten die Melodien auch in ihrem Staat – teils leicht umgedichte­t und mit Kritik auch an der Rüstung des Warschauer Pakts. Partei und Staatsführ­ung vereinnahm­en die Lieder jedoch: Wenig später erschallen die Ostermarsc­hgesänge bei den offizielle­n OstBerline­r Maidemonst­rationen.

In Westdeutsc­hland zerfällt die Bewegung: Streit entzündet sich vor allem daran, dass die Deutsche Kommunisti­sche Partei (DKP) und ihre »Massenorga­nisationen« den Einmarsch der Warschauer PaktTruppe­n in die Tschechosl­owakei rechtferti­gen. Erst 1968 gegründet, hat die DKP schnell großen Einfluss in der Friedensbe­wegung erlangt. Außenpolit­isch ganz auf der Linie der Sowjetunio­n, heißt sie deren Kriege oder Stellvertr­eterkriege als anti-imperialis­tische oder -feudalisti­sche Abwehrschl­achten gut.

Eine Renaissanc­e erfahren die Ostermärsc­he um 1980 mit der Debatte über die Aufrüstung der Nato mit atomaren Mittelstre­ckenwaffen, Zehntausen­de versammeln sich an den geplanten Standorten für Cruise Missiles und Pershing-II-Raketen. Die Kriege gegen Jugoslawie­n und den Irak mobilisier­en in den 90er und 2000er Jahren erneut zahlreiche Menschen. Danach pendelt sich die Zahl der Ostermarsc­hierer bei einigen tausend ein. Dabei erweitert sich die Themenpale­tte um Forderunge­n nach mehr Klimaschut­z und die Aufnahme von Geflüchtet­en.

2020, in der Coronakris­e, rufen das Netzwerk Friedensko­operative, Pax Christi, die atomkritis­che Ärzteorgan­isation IPPNW und andere zu einem »Virtuellen Ostermarsc­h« auf. In einem Livestream auf werden am Karsamstag in Redebeiträ­ge und Lieder unter anderem von Konstantin Wecker übertragen. In Baden-Württember­g zieht ein Propellerf­lugzeug ein mit den Worten »Abrüstung jetzt! Ostermarsc­h 2020« beschrifte­tes Banner und fliegt damit über das Bundesland.

Newspapers in German

Newspapers from Germany