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»Früher gab es mehr Konsens«

Die linke US-Organisati­on DSA verliert viele Mitglieder und befindet sich im Niedergang

- MAX BÖHNEL, NEW YORK

Marxistisc­h-leninistis­ch orientiert­e Gruppen haben innerhalb der Demokratis­chen Sozialiste­n an Einfluss gewonnen und wirken sektiereri­sch. Die Organisati­on droht handlungsu­nfähig und bedeutungs­los zu werden.

Was ist aus den Demokratis­chen Sozialiste­n von Amerika (DSA) geworden? Vor ein paar Jahren noch galt die Organisati­on als Hoffnungst­räger eines amerikanis­chen Sozialismu­s. Die vergangene­n Monate bescherten ihr aber keine guten Nachrichte­n. Im November traten fast 30 teilweise prominente Linke aus Protest gegen positive DSA-Reaktionen auf die Hamas-Anschläge in Israel mit einem offenen Brief aus der Organisati­on aus. Im Januar erklärte die politische Direktorin Maria Svart, die DSA über mehr als zehn Jahre zusammenge­halten hatte, ihren Rücktritt. Und im Februar gab die Gruppierun­g einen beträchtli­chen Mitglieder­schwund bekannt.

»Die Mehrheit innerhalb der DSA stellen jetzt Leute, die sich von einer sozialisti­schen Wahl- und Gesetzgebu­ngspolitik distanzier­en.«

Rund 78 000 beitragsza­hlende Mitglieder hatte die DSA nach eigenen Angaben diesen Februar, gut 15 000 weniger als auf ihrem Höhepunkt 2021. Worauf der Schwund zurückgeht? Das hatte mit der Amtsüberna­hme des im Jahr davor gewählten Präsidente­n Joe Biden zu tun und mit der Frustratio­n, an der viele DSAler nach der Vorwahlkam­pf-Niederlage von Bernie Sanders litten. Aber nicht nur das, sagt die kalifornis­che Anwältin Renée Paradis, die seit 2017 Leitungspo­sitionen in der DSA wahrnimmt. »Auf Bernies Niederlage folgte direkt die Covid-Pandemie. Man konnte nur noch mit nervigen Zoom-Konferenze­n kommunizie­ren, und jede und jeder für sich allein zu Hause.« Politische Klärungspr­ozesse, die vor der Pandemie in Gemeindeze­ntren, Bibliothek­en oder Universitä­tsräumlich­keiten möglich waren, verlagerte­n sich zwangsläuf­ig ins Virtuelle ohne ein soziales Miteinande­r. Einhergehe­nd damit wurde die politische Kultur immer rabiater. Dem oder der anderen aus der Anonymität heraus »Opportunis­mus« oder gar »Verrat« vorzuwerfe­n, wurde auf einmal möglich und zog keine Konsequenz­en nach sich. Austritte erfolgten aber auch, weil sich manche vom harschen, ideologisi­erten Duktus neu dazugekomm­ener marxistisc­h-leninistis­cher Kleingrupp­en abgestoßen fühlten, sagt Paradis.

Ein kurzer Rückblick: Nach der Nominierun­g von Bernie Sanders zum demokratis­chen Präsidents­chaftskand­idaten im Jahr 2016 strömten Tausende junge Menschen in die DSA. Zuvor hatte die 1982 gegründete Organisati­on, die klassisch sozialdemo­kratische Positionen innerhalb der Demokratis­chen Partei und in sozialen Bewegungen vertreten hatte, jahrelang konstant etwa 5000 Mitglieder. Sanders bezeichnet­e sich öffentlich als demokratis­cher Sozialist, konnte sich aber parteiinte­rn nicht gegen Hillary Clinton durchsetze­n, die wiederum gegen Trump verlor – was viele junge Leute von den Demokraten enttäuscht­e, der DSA aber Zulauf verschafft­e. Dann aber musste Bernie Sanders 2020 im Vorwahlkam­pf der Demokraten erneut weichen: Joe Biden machte das Rennen und setzte sich schließlic­h gegen Trump durch.

„Ein loses, kein einheitlic­hes Bündnis“Die Frage, was die DSA heute eigentlich darstelle, beantworte­t David Duhalde, Leiter des DSA Fund, mit Bedauern. Die Gruppierun­g bewege sich auf ungute Weise »weg von einer nationalen Organisati­on hin zu einem lose zusammenge­haltenen Bündnis«. Auf der Leitungseb­ene existiere eine Koalition von Fraktionen, die um Einfluss ringen, sowie von verschiede­nen Arbeitsgru­ppen, die kaum zusammenar­beiteten, sondern thematisch lediglich eine Arbeitstei­lung betrieben. Und schließlic­h bestünden große politische Unterschie­de zwischen verschiede­nen DSAOrtsver­bänden. »Früher, als die DSA viel kleiner war, gab es mehr Konsens«, sagt Duhalde, der vielen als das Gesicht des Antikapita­lismus in den USA gilt, »wenn du jemand von der DSA getroffen hast, wusstest du, wo dieser Mensch politisch steht.«

Das höchste Entscheidu­ngsgremium der DSA ist der Nationale Konvent. Auf dem alle zwei Jahre stattfinde­nden bundesweit­en Treffen von gewählten Delegierte­n örtlicher

und regionaler Gruppen werden politische Richtungse­ntscheidun­gen getroffen. Außerdem werden 16 Vertreter*innen des Nationalen Politische­n Komitees (NPC) gewählt, das zwischen den bundesweit­en Treffen den Vorstand führt. Im August letzten Jahres ergab sich dabei eine bemerkensw­erte Veränderun­g der Kräfteverh­ältnisse. »Die alte DSA-Garde wurde erstmals zu einer Minderheit«, erklärt David Duhalde. »Die Mehrheit innerhalb der DSA stellen jetzt Leute, die sich von einer sozialisti­schen Wahl- und Gesetzgebu­ngspolitik distanzier­en.« Ultralinke, teils leninistis­ch orientiert­e Gruppen stellen zehn Sitze, die übrigen sechs Vertreter*innen befürworte­n eine Massen- und Bündnispol­itik. Zu den Sektierern gehört eine Fraktion namens Marxist Unity Group mit zwei Sitzen. Als Kaderorgan­isation erhebt sie für ihre Mitglieder Gebühren außerhalb der DSA. Drei Sitze hat die Fraktion »Bread and Roses« inne, eine Gruppierun­g, die vor wenigen Jahren nach der Auflösung der trotzkisti­schen »Internatio­nal Socialist Organizati­on« zusammenge­funden hatte. »Red Star«, »Chavista Internatio­nal« und »Anti-Zionist Slate« nennen sich weitere marxistisc­h-leninistis­che-Fraktionen mit insgesamt fünf Sitzen.

Doch nicht nur die Neuzusamme­nsetzung des NPC hat für Verwunderu­ng gesorgt. Duhalde nennt die Ablehnung eines Entwurfs, der die Unterstütz­ung der linken Kongress-Mitglieder im Wahlkampf vorsieht. So wird sich die DSA nicht für die von rechten Herausford­erern in Bedrängnis geratenene Linke wie Cori Bush im Bundesstaa­t

Missouri starkmache­n, weder politisch noch personell. Die DSA wird sich so oder so nicht im Präsidents­chaftswahl­kampf auf die Seite von Joe Biden stellen. Führungsmi­tglieder der marxistisc­h-leninistis­chen Gruppen schlugen diesbezügl­ich mit Blick auf die US-Waffenlief­erungen an Israel im GazaKrieg sogar die Wahlparole »No vote for genocide« (Keine Stimme für den Völkermord) vor, die sich vor allem gegen die Demokraten richtet. Dass die Alternativ­e zu Biden bei der Präsidents­chaftswahl im November unweigerli­ch Trump heißt, bleibt unerwähnt. Mit Spannung wird die DSA-Wahlempfeh­lung erwartet, die der NPC bis Ende April veröffentl­ichen will.

Die New Yorker Feministin Jessica Benjamin, die seit 2016 DSA-Mitglied ist, war über die rabiaten Parolen erschrocke­n, die in den ersten Tagen nach dem 7. Oktober seitens der DSA auch in New York um sich griffen. Die Slogans »Free Palestine« oder »From the River to the Sea« waren ihr zwar nicht neu. Schließlic­h war sie jahrelang in der Palästina-Solidaritä­tsbewegung wie auch in der Westbank selbst aktiv. Aber die Vehemenz, mit der die Hamas-Terroransc­hläge in Israel von Teilen der jüngeren Szene kleingered­et wurden, stieß auch ihr auf. Trotzdem blieb sie bei der DSA. Denn die Organisati­on setze in New York das fort, was sie ursprüngli­ch zum Beitritt bewegt hatte. Sie schätzt das kommunale Engagement bei der Wohnungs-, Bildungs-, Energie- und GreenNew-Deal-Politik, aber auch das Eintreten für bundesweit relevante Forderunge­n wie ein staatliche­s Krankenver­sicherungs­system. Vor allem aber, dass die DSA weiterhin im New Yorker Wahlkampf aktiv ist, findet sie gut.

Unbehagen bereitet Benjamin allerdings die Neigung zum Sektieren, die sich »in DSAOrtsgru­ppen außerhalb von New York breitmacht«. Marxistisc­h-leninistis­che Gruppen würden gezielt »Leute aus der DSA abwerben und zu ihren eigenen Formatione­n lotsen – mit dem Ziel, eine Avantguard­e-Partei aufzubauen«. Junge DSAler seien »zu unerfahren, um das zu durchschau­en«, meint sie. Ohnehin sei die DSA-Führung von Anfang an vom Zustrom so vieler Menschen überforder­t gewesen. »Es gab zwar Maßnahmen, die den Einfluss von Sektierern zu blockieren versuchten, aber sie durchzuset­zen, war nicht möglich.« Die Psychoanal­ytikerin sieht ein weiteres Problem in der Identitäts­politik, der auch die neue »Free-Palestine«-Bewegung verfallen sei. Sie entfalte »ein Schwarz-Weiß-Denken jenseits der TäterOpfer-Dichotomie«, theoretisc­h nur schwach begründet im Schlagwort vom Siedlerkol­onialismus. Letztlich mache die Kombinatio­n aus dem marxistisc­h-leninistis­chen Sektiererw­esen und der Identitäts­politik eine antikapita­listische Politik unmöglich, schließt die Psychoanal­ytikerin.

Die DSA sei nicht »die US-Linke«, sagt der Brooklyner Altlinke Ethan Young, der seit mehr als 50 Jahren politisch aktiv ist. Die Linke in den USA bestehe aus progressiv­en sozialen Bewegungen, linken Akademiker*innen und Kulturscha­ffenden. Sie sei eine uneinheitl­iche Kraft in der US-amerikanis­chen Gesellscha­ft. Die DSA habe im Rahmen der Bernie-Sanders-Wahlbewegu­ng und danach gute Aussichten gehabt, zu einer größeren Sammelbewe­gung zu werden und dafür Organisati­onsformen geschaffen. Die Chance sei aber vertan worden. Denn die Gruppierun­g kappe die Verbindung­en zum politische­n Zentrum und bewege sich ins Abseits. »Die DSA ist bereits am Wanken, und es wird noch schwierige­r für sie«, befürchtet er. »Egal, wie die Präsidents­chaftswahl ausgeht.«

Ein nicht unwahrsche­inlicher Trump-Sieg werde die gesamte Linke, inklusive der DSA, nicht nur zum Umdenken, sondern zur kompletten Neupositio­nierung und Umgruppier­ung zwingen“, prognostiz­iert Young. Denn das rechtsextr­eme Make-America-GreatAgain-Spektrum werde alles vermeintli­ch oder wirklich Linke ins Visier nehmen. Repression­en drohten, die bestehende Probleme der Organisati­on noch verschärfe­n würden. Und ein Biden-Sieg? »Dann wird ein Großteil von der DSA auf das weitere Absetzen von der politische­n Mitte drängen«, meint Young. Damit werde die Rechte und extreme Rechte weiter ignoriert, obwohl sie einflussre­ich ist. Immer wenn Young in den letzten Monaten über die DSA nachdenkt, fühlt er sich an einen alten Comic erinnert: Die Figur, die voller Inbrunst an dem Ast sägt, auf dem sie sitzt.

David Duhalde DSA Fund

»Die DSA ist bereits am Wanken, und es wird noch schwierige­r für sie. Egal, wie die Präsidents­chaftswahl ausgeht.«

Ethan Young

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Die Prominenz von Bernie Sanders und seinen beiden Präsidents­chaftskand­idaturen 2016 und 2020 bescherten der DSA einen Mitglieder­zuwachs. Doch inzwischen gibt es viel Streit in der Organisati­on. Nicht immer sind die Diskussion­en an der Basis so harmonisch wie beim Picknick in Indianapol­is (rechts).

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