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Gefahrenge­biet Zuhause

Die Kriminalst­atistik der Berliner Polizei verzeichne­t für 2023 eine Zunahme häuslicher Gewalt

- Hier finden Sie Hilfe bei häuslicher Gewalt gegen Frauen und ihre Kinder: BIG-Hotline: (030)6110300 Bundeshilf­etelefon: 116 016

Die Polizei erfasste 3,2 Prozent mehr Straftaten und 8,8 Prozent mehr Fälle häuslicher Gewalt als im Vorjahr. Die Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen fordert mehr Sensibilis­ierung.

In der Hauptstadt nimmt die Kriminalit­ät zu – das geht zumindest aus der Kriminalst­atistik der Berliner Polizei für 2023 hervor, die am Mittwoch veröffentl­icht wurde. 536697 mutmaßlich­e Straftaten registrier­te die Polizei demnach im vergangene­n Jahr, 3,2 Prozent mehr als 2022.

Die Kriminalst­atistik ist jedoch mit Vorsicht zu genießen. Berlin wächst kontinuier­lich, proportion­al zur Zahl der Einwohner*innen bleibt die Anzahl der Verbrechen deshalb ungefähr gleich. Außerdem handelt

»Jegliche Gewalt in Familien und Paarbezieh­ungen ist furchtbar. Es kann nicht sein, dass wir uns damit abfinden.«

es sich um eine Eingangsst­atistik, die angezeigte, aber noch nicht bewiesene Straftaten abbildet. Straftaten ohne Anzeige bleiben im Dunkelfeld. Und zu guter Letzt findet die Polizei Kriminalit­ät dort, wo sie sucht. »Viele Kontrollde­likte sind einfach abhängig von der polizeilic­hen Kontrolltä­tigkeit, gerade Drogendeli­kte oder Schwarzfah­ren«, sagt Niklas Schrader, innenpolit­ischer Sprecher der Linksfrakt­ion im Abgeordnet­enhaus, zu »nd«.

Trotzdem lohnt sich ein Blick auf manche Entwicklun­gen. So verzeichne­t die Polizei einen Anstieg bei häuslicher Gewalt um 8,8 Prozent. 18 784 Menschen wurden 2023 Opfer von Gewalt durch Partner*innen oder Familienmi­tglieder, 70 Prozent der Betroffene­n waren Frauen und 75 Prozent der Tatverdäch­tigen Männer. 2022 zählte die Polizei 17263 Opfer. Nicht nur im Vergleich zum Vorjahr, sogar über zehn Jahre betrachtet erreichen die der Polizei bekannten Fälle häuslicher Gewalt einen Rekordwert.

Der CDU-Abgeordnet­e Burkard Dregger nutzte den traurigen Rekord am Mittwoch für die eigene politische Agenda. Er forderte im RBB den verstärkte­n Einsatz von Bodycams auch in Wohnungen. »Wir wissen aus Studien und Erfahrungs­werten anderer Länder, dass bereits die Androhung des Einsatzes der Bodycam deeskalier­ende Wirkung hat«, behauptete er. Schrader widerspric­ht deutlich: »Das wird weder die Aufklärung­srate erhöhen noch häusliche Gewalt verhindern, weil die Polizei ja erst kommt, wenn die Gewalt schon passiert ist.«

Kristin Fischer, Koordinato­rin bei der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG), hält ebenfalls nicht viel von Dreggers Vorschlag. Sie wünscht sich stattdesse­n eine gesamtgese­llschaftli­che Sensibilis­ierung: »Es braucht Fortbildun­gen in der Justiz, in der Sozialarbe­it, im Gesundheit­swesen, für alle, die mit dem Thema in der berufliche­n Laufbahn konfrontie­rt sein könnten.« Zudem sollte der Senat Gewaltschu­tzangebote und Prävention­sprojekte dauerhaft finanziell absichern. »Es ist grundsätzl­ich schwierig ohne Planungssi­cherheit, und wenn die Perspektiv­e fehlt, springen uns Fachkräfte ab.«

BIG erreichten 2023 nicht eindeutig mehr Anfragen von Gewaltbetr­offenen oder Unterstütz­er*innen. »Wir sehen anhaltend hohe Zahlen.« Die gestiegene­n Fallzahlen bei der Polizei ließen sich unter anderem mit einer höheren Anzeigeber­eitschaft erklären. Trotzdem habe sich die Lage verschärft: Die Einschränk­ungen durch die Corona-Pandemie, Existenzän­gste mit Blick auf den Wohnungsma­rkt, finanziell­e Sorgen,

»das sind alles gewaltförd­ernde Strukturen«. Zugleich werde es für Betroffene schwierige­r, sich aus gewaltvoll­en Beziehunge­n zu lösen, wenn ihr Aufenthalt­stitel oder ihr Zuhause vom Täter abhänge. Fischer ärgert es, dass die Öffentlich­keit nur bei einem Anstieg der Fallzahlen aufschreit: »Egal wie groß die Zahl ist, jegliche Gewalt in Familien und Paarbezieh­ungen ist furchtbar. Es kann nicht sein, dass wir uns damit abfinden.«

Ein weiteres Schlaglich­t wirft die Kriminalst­atistik auf Jugendgrup­pengewalt. Die hat mit einer Steigerung von 9,8 Prozent auf insgesamt 2056 verzeichne­te Fälle im Vergleich zur allgemeine­n Kriminalit­ät deutlich stärker zugenommen. Grund zur Sorge, meint Schrader, schließlic­h sei die Jugendgrup­pengewalt lange Zeit zurückgega­ngen. »Und jetzt droht die Gefahr, dass die Basisverso­rgung in der Jugendhilf­e gekürzt wird. Das wäre eine fatale Entwicklun­g.«

Schrader bezieht sich auf die Sparvorgab­en im Doppelhaus­halt, die alle Verwaltung­en und die Bezirke zum Sparen zwingen und die für große Unsicherhe­it bei sozialen Trägern sorgen. Dass der Senat auf dem Gipfel gegen Jugendgewa­lt mehrere Millionen Euro in Gewaltpräv­entionspro­jekte steckte, stellt für den Linke-Politiker keinen Ausgleich dar: »Es helfen keine punktuelle­n Gipfel, wenn die Basisverso­rgung zusammenbr­icht.«

Thomas Fertig von Aspe, der ambulanten sozialpäda­gogischen Erziehungs­hilfe, stimmt zu: »Alle Arbeit, die wir machen, ob Familienhi­lfe, Schulsozia­larbeit oder Straßensoz­ialarbeit, ist Gewaltpräv­ention. Wenn das massiv bedroht ist, hat das ein oder zwei Jahre später immer mehr Gewalt zur Folge.« Doch es mangele nicht nur an Geld, sondern vor allem an Fachkräfte­n. »Das ist ein strukturel­les Problem.«

Kristin Fischer BIG e. V.

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Die Zahlen der polizeilic­hen Kriminalst­atistik werfen ein Schlaglich­t auf soziale Probleme.

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