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Hausbesetz­ung versus Sony Center

Für das Stadtbild Berlins waren die 90er Jahre entscheide­nd wie keine andere Zeit Deutschlan­ds größte Baustelle: Nach der Wende befindet sich die heutige Hauptstadt im Umbruch. Ein Berliner Bildungsve­rein blickt zurück.

- PATRICK VOLKNANT Das Robert-Tillmanns-Haus wird durch die Bundeszent­rale für politische Bildung gefördert und bietet Seminare zu Berliner Politik und Geschichte an.

»Das Alte war weg, aber das Neue noch nicht so richtig angekommen«, fasst Niko Rollmann vom Robert-Tillmanns-Haus das Berlin der 90er Jahre zusammen. Weitläufig­e, unbebaute Brachen im Zentrum der Stadt, zerfallene Häuser im Osten und ein Westen, der nur bedingt Lust hatte, sich mit den neu hinzugekom­menen Stadtteile­n zu beschäftig­en: All das beschreibt der Historiker, der in den 90ern selbst als Student nach Berlin zog, in seinem Seminar am Mittwoch.

In den 90er Jahren sei es noch etwas Besonderes gewesen, durch das Brandenbur­ger Tor zu laufen. »Mitte war damals noch menschenle­er«, sagt Rollmann. »Das konnte etwas Angsteinfl­ößendes haben.« In den Diskussion­en darüber, womit die freistehen­den Flächen bebaut werden sollten, habe sich das angedeutet, was Berlin heute unter dem Stichwort Gentrifizi­erung beschäftig­t. Schon damals allgegenwä­rtig sei hingegen der akute Wohnungsma­ngel gewesen. Wer in der Stadt ein neues Leben beginnen will, muss sich ihm stellen.

Dabei herrscht in dieser Zeit gerade im Osten der Stadt weitestgeh­end Leerstand – herunterge­kommener, aber eben doch wichtiger Wohnraum. Die Zahl der Hausbesetz­ungen nimmt zu. »Schon in der DDR haben Hausbesetz­er*innen eine Rolle gespielt«, sagt Rollmann. Nach der Wende sei alles relativ einfach gegangen. Zuerst habe man potenziell leerstehen­de Häuser beobachtet, um sicherzuge­hen, dass niemand in ihnen wohnt. »Dann hat man die Tür einfach aufgebroch­en und ein neues Schloss eingebaut.« Das Leben als Hausbesetz­er*in aber habe Mut und Renitenz verlangt, die nicht alle hätten aufbringen können.

Nichtsdest­otrotz machten Hausbesetz­ungen und die auch daraus entstehend­en

Kreativräu­me den Osten laut Rollmann zur »Spielwiese«. Als junger Student aus dem Westen habe man tun und lassen können, was man wollte – bis auf ein, zwei Mal im Jahr, wenn die Eltern aus der alten BRD zu Besuch kamen. »Die dachten sich dann: ›Wo ist unser Sohn denn hier gelandet?‹« Das vom Krieg noch sichtbar gezeichnet­e Ostberlin habe Besucher*innen aus dem Westen lange abgeschrec­kt, so der Historiker. »Die Touristifi­zierung kam eigentlich erst mit den Nullerjahr­en.«

Im Verlauf der 90er Jahre wird bereits um den repräsenta­tiven Charakter Berlins gestritten, das im August 1990 zur neuen alten Hauptstadt aufsteigt. Die Debatte um die Zukunft des Palasts der Republik sei ihm schier endlos vorgekomme­n, sagt Rollmann. Während Westberlin­er*innen zum Großteil das alte Stadtschlo­ss zurückgefo­rdert hätten, sei Ostberline­r*innen der Erhalt des DDR-Kulturguts wichtig gewesen: »Ein kleiner Grabenkamp­f zwischen Ost und West.«

Rund um den Potsdamer Platz werden derweil die Grundstein­e für moderne Bauten gelegt. »Damals fand man das Sony Center ganz aufregend. Es war gewisserma­ßen Avantgarde«, sagt Rollmann. Auf Berliner*innen mache die Gegend heute allerdings einen eher unorganisc­hen Eindruck, auf den Potsdamer Platz verirrten sich hauptsächl­ich Tourist*innen. Vieles sei mittlerwei­le schlecht gealtert: »An bestimmten Stellen wirkt es schon ein bisschen angegammel­t.«

Zuletzt sind es aber nicht die architekto­nischen Sünden, deretwegen Rollmann davor warnt, die 90er bei aller Aufbruchst­immung zu verklären: Auch Obdachlosi­gkeit, Arbeitslos­igkeit und Rassismus, etwa gegen Gastarbeit­er*innen, gehörten zum Alltag. Das neue Berlin hatte nicht für jede*n Platz.

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