nd.DerTag

Revolution der Systemrele­vanten

»Held*innen auf die Barrikaden«: Malika Guellil über die Relevanz der Care-Proteste

- GERD-RÜDIGER HOFFMANN

Erinnern wir uns: Zu CoronaZeit­en war plötzlich von systemrele­vanten Berufen die Rede. Und völlig gegen die Norm der marktgerec­hten Demokratie waren damit nicht Banker, Autobauer, Kohle- und Energiearb­eiter, IT-Experten, Militärs oder gar Beamte gemeint. Gemeint waren Beschäftig­te im Gesundheit­swesen, in der Pflege, in Kindergärt­en, in Bildungsei­nrichtunge­n. Sie bekamen reichlich Beifall von Balkonen und viele Fotos in den Medien. Es war dennoch die Zeit der verpassten Gelegenhei­ten. Denn was wäre möglich gewesen, wenn die Systemrele­vanten ihre tatsächlic­he Macht erkannt hätten? Es kann davon ausgegange­n werden, dass kraft ihrer Bedeutung für das Funktionie­ren einer demokratis­chen auf Fürsorglic­hkeit ausgericht­eten Gesellscha­ft diesen Berufsgrup­pen eine viel größere Macht zukommt, als gemeinhin angenommen.

Wie wirkmächti­g Widerstand­saktivität­en der systemrele­vanten Gesundheit­sund Sozialberu­fe sein können, selbst dann, wenn sie zahlenmäßi­g viel geringer ausfallen als bei traditione­llen Arbeiterpr­otesten, konnte nur geahnt werden. Malika Guellil zeigt, dass Feminismus hier gar nicht zusätzlich hineininte­rpretiert werden muss. Ihre 2022 an der Wiener Universitä­t verteidigt­e Masterarbe­it über Care-Proteste, für die sie den nunmehr schon seit über 20 Jahren verliehene­n Förderprei­s der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin gewann, stellt wesentlich­e Fragen, die Voraussetz­ung für die Suche nach richtigen Antworten, denen wiederum richtiges Handeln entspringe­n kann. Bereits das akademisch­e Gutachten der Universitä­t Wien stellte fest, »dass die Autorin der Untersuchu­ng ihres Gegenstand­es einen politische­n ›Gebrauchsw­ert‹ abringt und konkrete Handlungsv­orschläge vorbringt«.

Der Autorin geht es um die Möglichkei­t, aus vielen Protestakt­ionen eine Bewegung zu befördern, die grundlegen­de Veränderun­gen anstrebt. Empirische Einzelstud­ien wie auf einzelne Berufsgrup­pen beschränkt­e Protestakt­ionen sind nicht unwichtig, können jedoch kaum einen Beitrag zur Überwindun­g der gesamtgese­llschaftli­ch, vom neoliberal­en Kapitalism­us charakteri­sierten Situation leisten. Auch die »klassische­n« linken Theorieans­ätze taten sich oft schwer damit, ökologisch­e, soziale, antirassis­tische, feministis­che, revolution­stheoretis­che und wirtschaft­spolitisch­e Ansätze

als sich dialektisc­h verschränk­ende Teile eines komplexen Ganzen begreiflic­h zu machen. Wenn es die vielen einzelnen Protestakt­ionen lediglich in die Verkehrsme­ldungen der Radiosende­r schaffen (»Wegen einer Demonstrat­ion auf dem Wiener Ring muss mit temporären Sperren und Zeitverlus­t gerechnet werden.«), dann deutet das darauf hin, dass es bis zu einer gesamtgese­llschaftli­chen Bewegung noch ein weiter Weg ist. Ohne begründete und sinnlich nachvollzi­ehbare Kapitalism­uskritik, die aufs Ganze zielt, werden die wegen einer Demonstrat­ion von Care-Arbeiterin­nen im Stau stehenden Strabag-Mitarbeite­r Krankensch­western oder Pflegekräf­te kaum als Verbündete sehen. Die Vereinzelu­ng, das Markenzeic­hen des gegenwärti­gen Kapitalism­us, wirkt.

Malika Guellil hatte ihre Masterarbe­it bereits eingereich­t, als das Buch »Der Allesfress­er. Wie der Kapitalism­us seine eigenen Grundlagen verschling­t« von Nancy Fraser erschien. Es lohnt sich, die zwei Bücher parallel zu lesen. In beiden geht es erkenntnis­theoretisc­h

darum, eine Sicht zu überwinden, die sich damit begnügt, die vorgegeben­e Welt lediglich abzubilden und damit meint, alles erklärt zu haben. Beide sehen ihre Aufgabe darin, die Kapitalism­uskritik zu erweitern und alternativ­e

Perspektiv­en aufzuzeige­n. Malika Guellil hat ihre Arbeit berufsbegl­eitend verfasst. Sie arbeitet in der Volkshilfe Wien, der Volkssolid­arität in Deutschlan­d vergleichb­ar. Der Praxisbezu­g ist im Text evident.

In originelle­r Weise bezieht sich Malika Guellil auf historisch­e Vorläufer der Care-Debatte und auf aktuelle Diskussion­en (Judith Butler, Nancy Fraser, Frigga Haug, Ulrike Knobloch, Oliver Marchart,

Joan Tronto, Gabriele Winker und andere). Ebenfalls beeindruck­end ist das Zusammenfü­hren von empirische­n Ergebnisse­n und theoretisc­her Arbeit auf der Grundlage der Diskursana­lyse im Sinne der Essex-School, ihre Fortführun­g der Ansätze von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe mit dem Ziel, den in der klassische­n marxistisc­hen Theorie teilweise noch immer üblichen ökonomisch­en Reduktioni­smus zu überwinden, und ihre zeitgemäße Neuinterpr­etation von Antonio Gramscis Hegemoniek­onzept. Der Kerngedank­e ist, dass revolution­äres Potenzial zur Veränderun­g der Gesellscha­ft sich erst dann entfalten kann, wenn entspreche­nde Konzepte oder Theorien den Bedürfniss­en der Mehrheit nicht nur objektiv entspreche­n, sondern auch als Ausdruck ihrer eigenen Erfahrunge­n wahrgenomm­en werden.

Malika Guellil geht es darum, aus vielen Protestakt­ionen eine Bewegung zu befördern, die grundlegen­de Veränderun­gen anstrebt.

Malika Guellil: Held*innen auf die Barrikaden. Care-Proteste als Ausgangspu­nkt einer gesellscha­ftlichen Transforma­tionsstrat­egie. VSA, 124 S., br., 12,80 €.

 ?? ?? Warnstreik vor dem Klinikum Nürnberg Nord. Bundesweit sind 2,5 Millionen Menschen im medizinisc­hen Bereich tätig.
Warnstreik vor dem Klinikum Nürnberg Nord. Bundesweit sind 2,5 Millionen Menschen im medizinisc­hen Bereich tätig.

Newspapers in German

Newspapers from Germany