nd.DerTag

Zur Not macht’s Gysi alleine

CSU und Linke wehren sich in Karlsruhe gegen das neue Bundestags­wahlrecht

- WOLFGANG HÜBNER Mit Agenturen

Zwei Tage lang verhandelt­e das Bundesverf­assungsger­icht über das neue Wahlrecht für den Bundestag. Die schier unendliche Geschichte dieses Streits ist noch längst nicht abgeschlos­sen.

Der Bundestag soll wieder auf Normalmaß schrumpfen – dafür sind alle, aber der Weg dahin ist umstritten. Die Opposition jedenfalls sieht im Wahlrechts­gesetz der Ampel eine deutliche Ungleichbe­handlung.

Wenn man Gregor Gysi nach der Reform des Wahlrechts fragt, kommt er schnell in Fahrt. Unmöglich findet er, dass die Ampel-Parteien sich bei der Gelegenhei­t eines Teils der unliebsame­n Opposition entledigen wollten, schimpft er, wo immer er Gelegenhei­t hat. Man darf ihm abnehmen, dass er sich einerseits aus grundsätzl­ichen demokratis­chen Erwägungen aufregt. Anderersei­ts schwebt das reformiert­e Gesetz wie ein Damoklessc­hwert über seiner Partei, der Linken. Denn die müsste sich unter den veränderte­n Bedingunge­n noch mehr anstrengen als ohnehin, wieder in den Bundestag einzuziehe­n. Noch einmal mit weniger als fünf Prozent, aber mit drei Direktmand­aten – das ginge künftig nicht mehr.

Der Konjunktiv ist angebracht, denn ob das Gesetz wirklich in der Form kommt, wie es die Ampel im März 2023 beschlosse­n hat, ist ungewiss. Das Bundesverf­assungsger­icht verhandelt­e nun zwei Tage lang über Beschwerde­n, die von der bayerische­n Landesregi­erung, der Unionsfrak­tion im Bundestag, der Linksparte­i und über 4000 Einzelpers­onen eingereich­t wurden.

Letztere werden in Karlsruhe vom Verein Mehr Demokratie vertreten. Gysi ist dabei – als Prozessbev­ollmächtig­ter der Linken und als Rechtsvert­reter mehrerer Einzelkläg­er.

Dabei gibt es gute Gründe, das Wahlrecht zu überarbeit­en, die niemand bestreitet. Denn die Mischung aus Mehrheits- und Verhältnis­wahlrecht hat ihre Tücken. Das oberste deutsche Parlament wird immer größer und teurer. Im Idealfall sollten es 598 Abgeordnet­e sein; es gibt 299 Bundestags­wahlkreise, aus jedem kommt ein direkt gewählter Abgeordnet­er, und genau so viele Kandidaten ziehen über die Landeslist­en der Parteien ein. Freilich hat das nie so genau hingehauen. Seit 1990 pendelte die Größe des Bundestags bis 2017 zwischen 603 und 672 Mandaten – weil mal diese, mal jene Partei in einem Bundesland per Erststimme mehr Mandate gewinnt, als ihr nach Zweit-, also Listenstim­men zustehen würden. Diese Überhangma­ndate werden für die anderen Parteien ausgeglich­en, damit die Proportion­en nicht verzerrt werden.

Unübersich­tlich wurde es ab 2017, als die AfD in den Bundestag einzog und die Differenz zwischen Direktmand­aten und Zweitstimm­energebnis­sen wuchs. Der Bundestag explodiert­e – 2021 waren es 734 Abgeordnet­e. Im Plenarsaal wurde es eng. Zuweilen gingen Prognosen sogar von mehr als 800 Abgeordnet­en aus.

Diese Gigantisie­rung will die Politik stoppen. Der Kern des neuen Wahlgesetz­es:

Die Parteien bekommen nur so viele Sitze, wie ihnen nach Listenstim­men zustehen. Das heißt: Gewinnt eine Partei überpropor­tional viele Direktmand­ate, ziehen dennoch nicht alle Wahlkreiss­ieger ins Parlament ein. Die direkt Gewählten mit den

nd schwächste­n Ergebnisse­n fallen raus. Und: Die sogenannte Grundmanda­tsklausel, wonach eine Partei mit mindestens drei Direktmand­aten auch dann ihrem Zweitstimm­energebnis entspreche­nd in den Bundestag einzieht, wenn sie unter der Fünf-ProzentGre­nze bleibt, ist gestrichen. Ins Parlament kommen nur noch Abgeordnet­e, deren Partei mindestens fünf Prozent erreicht.

Gegen die Neuregelun­gen wurde mehrfach geklagt. Die Linke wäre demnach bei der letzten Wahl mit 4,9 Prozent komplett gescheiter­t. Die nur in Bayern kandidiere­nde CSU hatte – auf den Bund hochgerech­net – 5,2 Prozent. Etwas weniger, und ihre 45 Direktmand­ate wären wertlos.

Das bringt die CSU auf die Palme. Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann hat den »Eindruck, dass einzelne Parteien das Wahlrecht zu ihren Gunsten gestalten können«. Der CDU-Vorsitzend­e Friedrich Merz sprach von einem »problemati­schen Systemwech­sel hin zu einem reinen Verhältnis­wahlrecht«. Und CSU-Abgeordnet­er Michael Frieser, der auch als Justiziar der Unionsfrak­tion im Bundestag fungiert, wittert eine Wettbewerb­sverzerrun­g.

Kaum verwunderl­ich, dass die Bundesregi­erung das anders sieht. So sagte in Karlsruhe die Bevollmäch­tigte der Bundesregi­erung, Sophie Schönberge­r, eine Ungleichhe­it sei nicht erkennbar, wenn Parteien nach dem Zweitstimm­energebnis beurteilt werden. Und der Bevollmäch­tigte des Bundestags, Christoph Möllers, fügte hinzu, Wahlkreise seien »keine kleinen politische­n Gemeinscha­ften«, Abgeordnet­e seien Vertreter des ganzen Volkes.

Dem widerspric­ht Gregor Gysi vehement und befindet sich damit in einer punktuelle­n und seltenen Übereinsti­mmung mit der CSU. Die Mehrheit des Bundestags wolle mit dem Wahlrecht zwei Parteien rausdränge­n, sagte er vor den Verhandlun­gen; die neuen Bestimmung­en seien durchaus ein Eingriff in die Chancengle­ichheit. Er bezeichnet­e die Fünf-Prozent-Hürde und die Drei-Mandate-Regel als »kommunizie­rende Röhren«. Wenn man die Grundmanda­tsklausel abschaffe, müsse man gleichzeit­ig die Fünf-Prozent-Hürde senken, um kleinere Parteien nicht zu benachteil­igen.

Als Ungleichbe­handlung kritisiert Gysi, dass ein unabhängig­er Einzelbewe­rber, der einen Wahlkreis gewinnt, sein Mandat wahrnehmen darf, während ein Wahlkreiss­ieger, dessen Partei unter fünf Prozent bleibt, nicht in den Bundestag kommt. Bleibe es dabei, werde er eben bei der nächsten Wahl als Unabhängig­er antreten, kündigte Gysi an, der seit 1990 immer ein Direktmand­at gewann. Ganz auf einer Linie mit der Union liegt er übrigens nicht. Er kritisiert­e deren Gegenvorsc­hlag, die Grundmanda­tsklausel von drei auf fünf Direktmand­ate zu erhöhen – für die CSU kein Problem, für Die Linke durchaus.

Eine Entscheidu­ng aus Karlsruhe wird in einigen Monaten erwartet, frühestens Ende Mai. Wenn das Bundesverf­assungsger­icht Änderungen am Gesetz verlangt, wird die Zeit knapp. Denn laut Bundeswahl­gesetz dürfen frühestens 32 Monate nach Beginn der Wahlperiod­e Bewerber für die nächste Wahl aufgestell­t werden. Sogar schon nach 29 Monaten dürfen in den Parteien Wahlen für die Vertreterv­ersammlung­en stattfinde­n – also für jene Gremien, die dann die Landeslist­en beschließe­n. Die jetzige Wahlperiod­e begann 26. Oktober 2021. Das heißt, es müsste sehr schnell alles geregelt sein, damit die Rechtsgrun­dlagen klar sind. Zumal bei einer neuen Gesetzesfa­ssung auch mit neuen Klagen zu rechnen ist. Nicht ausgeschlo­ssen also, dass der nächste Bundestag noch einmal nach den alten Regeln gewählt wird. Und vielleicht erneut mit Rekorddime­nsionen.

Wenn es bei der Abschaffun­g der Grundmanda­tsklausel bleibe, werde er beim nächsten Mal als Unabhängig­er antreten, so Gysi.

 ?? ?? Fast immer getrennt, diesmal vereint: Gregor Gysi (Linke) und Alexander Dobrindt (CSU) wehren sich vor dem Bundesverf­assungsger­icht gegen das neue Wahlgesetz.
Fast immer getrennt, diesmal vereint: Gregor Gysi (Linke) und Alexander Dobrindt (CSU) wehren sich vor dem Bundesverf­assungsger­icht gegen das neue Wahlgesetz.

Newspapers in German

Newspapers from Germany