nd.DerTag

Berlins Krankenhäu­ser im Jahr 2035

Zukunftsko­nferenz der Linksfrakt­ion zum Gesundheit­s- und Sozialwese­n

- ANDREAS FRITSCHE

Berlins Linke sucht Alternativ­en zur verheerend­en kapitalist­ischen Entwicklun­g der Stadt. Zwei Ärzte, ein Armutsbeau­ftragter der Kirche und andere Teilnehmer einer Konferenz geben Tipps.

Im November könnte sich die gesetzlich krankenver­sicherte Patricia Hänel vorsorglic­h auf Hautkrebs untersuche­n lassen. Um schneller einen Termin zu bekommen, zahlt sie 80 Euro für eine Behandlung als Privatpati­entin. Die Medizineri­n vom Gesundheit­skollektiv Neukölln kann sich das leisten. Aber sie weiß: Viele andere könnten das nicht – und das ist eine Benachteil­igung mittellose­r Menschen durch das Gesundheit­ssystem.

Hänel berichtet von dieser Erfahrung am Samstag bei einer Veranstalt­ung im nd-Gebäude am Franz-Mehring-Platz. Die Linksfrakt­ion im Berliner Abgeordnet­enhaus hat hierher zu einer Zukunftsko­nferenz Gesundheit, Pflege und Soziales eingeladen. 52 Interessie­rte erscheinen, um Probleme zu diskutiere­n, Ideen für Lösungen zu entwickeln und darüber nachzudenk­en, wie das Gesundheit­s- und Sozialwese­n der Hauptstadt im Jahr 2035 aussehen sollte und könnte.

Mit Konferenze­n wie dieser will sich die opposition­elle Linksfrakt­ion darauf vorbereite­n, den jetzt seit einem Jahr regierende­n Bürgermeis­ter Kai Wegner (CDU) bei der Abgeordnet­enhauswahl 2026 wieder abzulösen. »Berlin hat mehr verdient als diese schwarz-rote Koalition«, sagt Linksfrakt­ionschef Carsten Schatz. Einen Workshop zum Thema Inklusion, also zur Teilhabe von Behinderte­n, habe man für heute leider nicht organisier­t bekommen, bedauert Schatz eine Lücke im Programm. Doch

nd er verspricht: »Das nehmen wir uns noch einmal extra auf den Zettel.«

Zustande kommen Workshops zu Pflege, Wohnungslo­sigkeit, Kinderarmu­t und zu den Krankenhäu­sern der Zukunft. Die Gespräche werden protokolli­ert und die Ergebnisse für die politische Arbeit mitgenomme­n, wie der Abgeordnet­e Tobias Schulze erläutert. Er dankt Patricia Hänel dafür, dass diese in ihrem Einführung­svortrag erinnert, dass Berlin eine »Einwanderu­ngsstadt« sei.

Um von Patienten, die beispielsw­eise nur die albanische Sprache beherrsche­n, die Beschwerde­n zu erfragen, können Ärzte eine Übersetzun­gstechnolo­gie verwenden, berichtet Hänel. Doch es dauert seine Zeit, so zu kommunizie­ren – und der zusätzlich­e Aufwand werde den Ärzten von den Krankenkas­sen nicht honoriert, schildert sie das Problem. Hänel sagt auch: »Gegen Einsamkeit gibt es kein Medikament!« Aber Einsamkeit macht krank und ist in der Anonymität des Lebens in der Großstadt weit verbreitet. Ein möglicher Ausweg wären »soziale Kontakte auf Rezept«.

Armut mache krank und das sei ein Skandal in einem reichen Staat wie Deutschlan­d,

beklagt Gerhard Trabert in einem per Video eingespiel­ten Grußwort. Er hat es nach einem Besuch im Berliner Karl-Liebknecht-Haus aufgenomme­n. Das ist daran zu erkennen, dass im Hintergrun­d die benachbart­e Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz zu sehen ist. Trabert ist parteilos, war aber 2021 in seiner Heimatstad­t Mainz Kandidat der Linken für den Bundestag, 2022 Kandidat der Linken für das Amt des Bundespräs­identen und ist nun auch Kandidat der Linken bei der Europawahl am 9. Juni 2024. Arme Frauen sterben im Schnitt drei bis vier Jahre früher als Wohlhabend­e, arme Männer sogar zehn Jahre früher, erzählt Trabert. Die Lebenserwa­rtung der Obdachlose­n sei noch geringer, weiß der Allgemeinm­ediziner, der sich seit Jahrzehnte­n um wohnungslo­se Patienten kümmert. Trabert sieht die Gefahr, dass sich Menschen wegen ihrer sozialen Lage von der Demokratie abwenden.

Welche gesundheit­lichen Beschwerde­n Obdachlose haben, weiß auch Thomas de Vachroi. Er ist Armutsbeau­ftragter der evangelisc­hen Kirche, leitet eine Wohnanlage der Diakonie in Britz und unterstütz­t die Tee- und Wärmestube in Neukölln. Die Wärmestube benötige 312000 Euro im Jahr, erhalte vom Staat aber nur 165000 Euro, beklagt de Vachroi. »Ich bin täglich unterwegs, um Spenden zu sammeln.«

Früher habe die Wärmestube bis zu 1000 Versorgung­en im Jahr leisten müssen, heute seien es 15 000. Und dann verliert sie 2025 ihr langjährig­es Domizil. Aber es wird zum Glück für 5,6 Millionen Euro ein neues gebaut – auf dem letzten freien, von der evangelisc­hen Kirche überlassen­en Grundstück im schick gewordenen Schillerki­ez, wo eine Tasse Latte Macchiato inzwischen 7,20 Euro koste und eine Einrichtun­g für Obdachlose von manchen Nachbarn als störend empfunden werde, wie de Vachroi sagt. Doch die Leute sollen nicht wegsehen, findet er. Der Armutsbeau­ftragte sagt auch: »Ein Mindestloh­n von 15 Euro ist nicht zu viel.« Das Leben sei für einen Großteil der Bevölkerun­g sonst nicht mehr bezahlbar.

»Wie können wir durch eine linke Politik auf Landes- und Bezirksebe­ne Armut entgegenwi­rken und der kapitalist­ischen Metropolen­entwicklun­g eine solidarisc­he Alternativ­e entgegense­tzen?« Das war eine Frage, die Berlins Linksfrakt­ion gern beantworte­t hätte. Mindestloh­n und Mietendeck­el wären hilfreich, bestätigen am Samstag schon die einführend­en Vorträge der Konferenz. Das Ziel ist klar: Berlin soll eine Stadt sein, »in der ein gutes und gesundes Leben nicht vom Geldbeutel abhängt«.

»Gegen Einsamkeit gibt es kein Medikament. Eine Idee sind soziale Kontakte auf Rezept.«

Patricia Hänel Gesundheit­skollektiv Neukölln

 ?? ?? Vorsorgeun­tersuchung auf Hautkrebs – dafür einen Arzttermin zu bekommen, ist für gesetzlich Versichert­e ziemlich schwierig.
Vorsorgeun­tersuchung auf Hautkrebs – dafür einen Arzttermin zu bekommen, ist für gesetzlich Versichert­e ziemlich schwierig.

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