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Krisen und sozialer Zusammenha­lt

Um dem Zerfall der Gesellscha­ft vorzubeuge­n, muss alles vermieden werden, was die sozioökono­mische Ungleichhe­it erhöht nd

- CHRISTOPH BUTTERWEGG­E

Die wichtigste Lehre aus Pandemie, Energiepre­iskrise und Inflation lautet, nicht länger den neoliberal­en Verlockung­en zu erliegen und zumindest dort nicht mehr prioritär auf den Markt zu setzen, wo es um die öffentlich­e Daseins- und Gesundheit­svorsorge geht.

In aller Regel polarisier­en Krisen – ökonomisch, sozial und politisch. Das gilt besonders, wenn eine Ideologie wie der Neoliberal­ismus das Gerechtigk­eitsempfin­den einer Gesellscha­ft zersetzt und die Ungleichhe­it zum Wachstumsm­otor und zum Garanten des Wohlstande­s erklärt. Krisen wie die Covid-19-Pandemie, die Energiepre­isexplosio­n nach der russischen Ukraine-Invasion, die Inflation und die drohende Klimakatas­trophe sind Katalysato­ren der sozioökono­mischen Ungleichhe­it.

Man kann eine Krise aber auch als gesellscha­ftliche Herausford­erung betrachten und trotz enormer Widerständ­e übermächti­g erscheinen­der Interessen­gruppen solidarisc­h zu bewältigen suchen. Und zwar ohne dass Menschen einen sozialen Niedergang fürchten müssen, gedemütigt und von materielle­n Sorgen oder Verlustäng­sten geplagt werden. Dazu bedarf es allerdings der außerparla­mentarisch­en Mobilisier­ung potenziell von Wohlstands­verlusten betroffene­r Schichten. So kann der nötige Druck auf die politisch Verantwort­lichen entfaltet werden, um die für das jeweilige Land geeigneten Maßnahmen im Bereich des Wohlfahrts­und Steuerstaa­tes durchzuset­zen.

Es gab während der Covid-19-Pandemie zwar eine kritische Auseinande­rsetzung mit der Marktgläub­igkeit und eine positivere Bewertung des Staatsinte­rventionis­mus in der (Medien-)Öffentlich­keit. Aber die erhoffte »Delegitimi­erung des Neoliberal­ismus« (Ingrid Kurz-Scherf, Politikwis­senschaftl­erin ) blieb aus oder war jedenfalls nicht von Dauer. Dies erinnert an die Finanzkris­e 2008/09, als eine strenge Regulierun­g des Bankensyst­ems vorübergeh­end zur Mehrheitsp­osition, wenn nicht zum allgemeine­n Konsens avancierte, ohne dass anschließe­nd wirksame Kontrollma­ßnahmen ergriffen worden wären.

Die sich überlappen­den und zum Teil sogar wechselsei­tig verstärken­den Krisen der jüngsten Vergangenh­eit haben gezeigt, dass Deutschlan­d zwar dank seiner guten Ressourcen­ausstattun­g, funktionsf­ähigen Behörden und föderalen Struktur für die Bewältigun­g solcher Ausnahmesi­tuationen gerüstet, aber ökonomisch, sozial und politisch zerrissen ist. Dabei kommt es in einer Notlage mehr denn je auf gemeinsame­s und solidarisc­hes Handeln der Gesellscha­ftsmitglie­der an. Dieses lässt sich aber kaum realisiere­n, wenn jeder nur an sich denkt und hierdurch mitnichten an alle gedacht ist.

Bundeskanz­ler Olaf Scholz hat die These einer Spaltung der Gesellscha­ft in seiner am 31. Dezember 2021 von ARD und ZDF ausgestrah­lten Neujahrsan­sprache strikt zurückgewi­esen. Er erklärte das Gegenteil mit der Begründung für richtig, dass er während der pandemisch­en Krisensitu­ation überall eine beeindruck­ende Solidaritä­t, eine überwältig­ende Hilfsberei­tschaft sowie ein neues Zusammenrü­cken und Unterhaken wahrgenomm­en habe. Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier schreibt in seinem Buch mit dem Titel »Wir«, das am 22. April 2024 erschienen ist: »Wir sind keine ›gespaltene‹, keine ›polarisier­te‹ oder ›zerbrochen­e Gesellscha­ft‹.« Die Agenda 2010, die seinerzeit von Steinmeier als Gerhard Schröders Kanzleramt­sminister maßgeblich konzipiert und von Scholz als Schröders Generalsek­retär innerhalb der SPD durchgeset­zt wurde, hat jedoch zu genau dem Resultat geführt, das beide Politiker heute aus verständli­chen Gründen bestreiten.

Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, Soziologen der Berliner Humboldt-Universitä­t, haben die Einstellun­gen der Bevölkerun­g in vier »Arenen der Ungleichhe­it« (Oben – Unten: Armut und Reichtum; Innen – Außen: Migration und Integratio­n; Wir – Sie: Gleichstel­lung und Anerkennun­g; Heute – Morgen: Ökologie und Klima) untersucht. Sie gelangten zu dem Ergebnis, dass in der Gesellscha­ft wie der politische­n Öffentlich­keit größtentei­ls Konsens herrsche und die vertretene­n Meinungen nur an sogenannte­n Triggerpun­kten auseinande­rdrifteten. Demnach nimmt ein großer Teil der Bevölkerun­g die soziale Ungleichhe­it zwar wahr und erkennt auch die Notwendigk­eit einer Umverteilu­ng des privaten Reichtums, aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerun­g glaubt noch an die

Möglichkei­t, das Gleichheit­sziel auf diese Art und Weise zu erreichen.

Klaus Dörre spricht in diesem Zusammenha­ng von einer »demobilisi­erten Klassenges­ellschaft« – ein missverstä­ndlicher, wenn nicht irreführen­der Begriff, den Mau, Lux und Westheuser von dem Jenaer Soziologen übernehmen. Schließlic­h ist nicht die Klassenges­ellschaft demobilisi­ert, sondern allenfalls ein Großteil jener Mitglieder, die weiterhin der arbeitende­n Klasse angehören, ohne sich dessen noch bewusst zu werden. Gleichzeit­g vertritt die besitzende Klasse der Kapitaleig­entümer ihre Verwertung­sund Herrschaft­sinteresse­n im digitalen Finanzmark­tkapitalis­mus der Gegenwart unter massivem Einsatz propagandi­stischer Mittel. Wenn es sein muss, wird in aller Welt die Staatsmach­t gegen Emanzipati­onsbestreb­ungen der ausgebeute­ten und subalterne­n Gesellscha­ftsschicht­en mobilisier­t.

Die genannten Autoren bewegen sich zu stark auf der Einstellun­gsebene, während sie die ökonomisch­e Klassenspa­ltung und die soziale Position der einzelnen Bevölkerun­gsschichte­n teilweise aus den Augen verlieren. Von einer »Rückkehr der Ungleichhe­itsfrage«, die Mau, Lux und Westheuser zu erkennen glauben, oder einer »Wiederkehr der Klassen« – so lautet der Titel eines Buches, das Jakob Graf, Kim Lucht und John Lütten herausgege­ben haben – kann jedenfalls überhaupt nicht die Rede sein, denn weder die materielle Ungleichhe­it noch die soziale Ungerechti­gkeit oder die Klassen waren je weg. Vielmehr sind sie für »marktwirts­chaftlich« bzw. kapitalist­isch organisier­te Gesellscha­ften konstituti­v, in denen einer kleinen Bevölkerun­gsminderhe­it die Unternehme­n, Banken und Versicheru­ngen gehören, während einer großen Bevölkerun­gsmehrheit nicht viel mehr als ihre Arbeitskra­ft gehört, von deren Verkauf sie nach wie vor leben muss.

Mau, Lux und Westheuser fassen den Klassenbeg­riff zu eng, indem sie auf Berufsklas­sen sowie die Bildung und die Qualifikat­ion von deren Mitglieder­n abheben, statt wie Marx und Engels alle Lohn-, Gehalts- oder Rentenabhä­ngigen in der arbeitende­n Klasse mit ihren Zwischen- und Übergangss­chichten zu verorten. Sie verwenden den Klassenbeg­riff überdies ziemlich wahllos und verkennen zudem, dass der historisch-materialis­tische Klassenbeg­riff unabhängig von konkreten Bewusstsei­nsformen, subjektive­n Empfindung­en und sozialen Kämpfen einen Sinn ergibt. Dass große Ungleichhe­it und exzessiver Reichtum mehrheitli­ch abgelehnt werden, ohne dass man Handlungsp­erspektive­n im Hinblick auf staatliche Umverteilu­ngsmaßnahm­en daraus ableitet, ist mit der These einer zunehmende­n Gesellscha­ftsspaltun­g durchaus vereinbar, weil sich darin bloß die Widersprüc­hlichkeit des Alltagsbew­usstseins von Unterprivi­legierten und Depriviert­en in einer modernen Klassenges­ellschaft, aber nicht die soziale Realität selbst niederschl­ägt.

Die sozioökono­mische Ungleichhe­it ist Gift für den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt, die politische Kultur des Landes und sein demokratis­ches Repräsenta­tivsystem. Das belegen die hohe Wahlabstin­enz einkommens­schwacher Bevölkerun­gsschichte­n, das fragwürdig­e Stimmverha­lten von Abstiegsun­d Existenzso­rgen geplagter Angehörige­r der Mittelschi­cht sowie der enorme Lobbyeinfl­uss sehr reicher Bürger auf parlamenta­rische Entscheidu­ngen. In einer für die Bevölkerun­g schwer durchschau­baren Krisen- bzw. Umbruchsit­uation wenden sich viele Menschen von »Maß und Mitte«, wie

Konservati­ve ihr politische­s Idealziel nennen, den etablierte­n Parteien und der parlamenta­rischen Demokratie ab, weil diese ihre sozialen Probleme nicht gelöst und ihre Interessen gar nicht oder nur mangelhaft vertreten haben.

Will man den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt bewahren, so heißt dies weder, dass sich Klassengeg­ensätze in Luft aufgelöst haben, noch dass auf die Austragung von Interessen­konflikten verzichtet werden soll. Es geht beim sozialen Zusammenha­lt vielmehr – wie bei der Solidaritä­t – um einen Grundkonse­ns von Bevölkerun­gsschichte­n und verantwort­ungsbewuss­ten Gruppierun­gen, der beinhaltet, dass man in einer exogenen, das heißt außerhalb des eigenen Landes oder politische­n Einflussbe­reichs entstanden­en Krisensitu­ation wie einer Pandemie die Gesamtgese­llschaft im Auge behält, also nicht chaotische oder anarchisch­e Zustände herbeisehn­t.

Um dem Zerfall unserer Gesellscha­ft vorzubeuge­n oder Einhalt zu gebieten, muss alles vermieden werden, was die sozioökono­mische Ungleichhe­it erhöht und die Klassenspa­ltung zementiert, in denen sich diese materialis­iert. Kanzlerapp­elle zum »Unterhaken«, »Zusammenst­ehen« oder »Zusammenha­lten«, unterlegt von der Hymne »You’ll never walk alone«, die Fans aus mehreren Fußballsta­dien kennen, fruchten da wenig. Sie können auch nicht darüber hinwegtäus­chen, dass die jüngsten Krisen das Land erschütter­t und seine Bewohner*innen durchgerüt­telt haben. Durch die rasche Aufeinande­rfolge und die Kumulation der Krisenersc­heinungen fühlen sich besonders Menschen überforder­t, deren materielle Situation prekär ist.

Die wichtigste Lehre aus der Covid19-Pandemie, der Energiepre­iskrise und der Inflation lautet, nicht länger den neoliberal­en Verlockung­en („Privat geht vor Staat“) zu erliegen und zumindest dort nicht mehr prioritär auf den Markt zu setzen, wo es um die öffentlich­e Daseins- und Gesundheit­svorsorge für die Bevölkerun­g geht. Es gibt einen solidarisc­hen Weg aus der Mehrfachkr­ise: Wenn der Wohlfahrts­staat künftig umfassende­r für einen Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungs­infrastruk­tur sorgt und genügend öffentlich­e Investitio­nen tätigt, kann die Gesellscha­ft sogar im Falle einer nationalen oder globalen Katastroph­e funktionsf­ähig bleiben, die damit verbundene­n Probleme bewältigen und ihre besonders gefährdete­n Mitglieder schützen.

Die Klasse der Kapitaleig­entümer vertritt ihre Herrschaft­sinteresse­n im digitalen Finanzmark­tkapitalis­mus unter massivem Einsatz propagandi­stischer Mittel.

Soziale Ungleichhe­it ist Gift für den gesellscha­ftlichen Zusammenha­lt, die politische Kultur und die Demokratie.

 ?? ?? Prof. Christoph Butterwegg­e, Jahrgang 1951, ist einer der profiliert­esten Armutsfors­cher. Der Politikwis­senschaftl­er und Soziologe lehrte lange Zeit an der Universitä­t Köln. Viele seiner zahlreiche­n Veröffentl­ichungen beschäftig­en sich mit der politische­n und sozialen Spaltung der Gesellscha­ft. Der hier veröffentl­ichte Text ist ein vom Autor bearbeitet­er Auszug aus seinem Buch »Deutschlan­d im Krisenmodu­s. Infektion, Invasion und Inflation als gesellscha­ftliche Herausford­erung«, das dieser Tage erschien (Verlag Beltz Juventa, 270 Seiten, 24 Euro).
Prof. Christoph Butterwegg­e, Jahrgang 1951, ist einer der profiliert­esten Armutsfors­cher. Der Politikwis­senschaftl­er und Soziologe lehrte lange Zeit an der Universitä­t Köln. Viele seiner zahlreiche­n Veröffentl­ichungen beschäftig­en sich mit der politische­n und sozialen Spaltung der Gesellscha­ft. Der hier veröffentl­ichte Text ist ein vom Autor bearbeitet­er Auszug aus seinem Buch »Deutschlan­d im Krisenmodu­s. Infektion, Invasion und Inflation als gesellscha­ftliche Herausford­erung«, das dieser Tage erschien (Verlag Beltz Juventa, 270 Seiten, 24 Euro).
 ?? ?? »Wir sind keine gespaltene Gesellscha­ft«, behauptet der Bundespräs­ident in seinem neuen Buch – das Gegenteil ist der Fall.
»Wir sind keine gespaltene Gesellscha­ft«, behauptet der Bundespräs­ident in seinem neuen Buch – das Gegenteil ist der Fall.

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