Krisen und sozialer Zusammenhalt
Um dem Zerfall der Gesellschaft vorzubeugen, muss alles vermieden werden, was die sozioökonomische Ungleichheit erhöht nd
Die wichtigste Lehre aus Pandemie, Energiepreiskrise und Inflation lautet, nicht länger den neoliberalen Verlockungen zu erliegen und zumindest dort nicht mehr prioritär auf den Markt zu setzen, wo es um die öffentliche Daseins- und Gesundheitsvorsorge geht.
In aller Regel polarisieren Krisen – ökonomisch, sozial und politisch. Das gilt besonders, wenn eine Ideologie wie der Neoliberalismus das Gerechtigkeitsempfinden einer Gesellschaft zersetzt und die Ungleichheit zum Wachstumsmotor und zum Garanten des Wohlstandes erklärt. Krisen wie die Covid-19-Pandemie, die Energiepreisexplosion nach der russischen Ukraine-Invasion, die Inflation und die drohende Klimakatastrophe sind Katalysatoren der sozioökonomischen Ungleichheit.
Man kann eine Krise aber auch als gesellschaftliche Herausforderung betrachten und trotz enormer Widerstände übermächtig erscheinender Interessengruppen solidarisch zu bewältigen suchen. Und zwar ohne dass Menschen einen sozialen Niedergang fürchten müssen, gedemütigt und von materiellen Sorgen oder Verlustängsten geplagt werden. Dazu bedarf es allerdings der außerparlamentarischen Mobilisierung potenziell von Wohlstandsverlusten betroffener Schichten. So kann der nötige Druck auf die politisch Verantwortlichen entfaltet werden, um die für das jeweilige Land geeigneten Maßnahmen im Bereich des Wohlfahrtsund Steuerstaates durchzusetzen.
Es gab während der Covid-19-Pandemie zwar eine kritische Auseinandersetzung mit der Marktgläubigkeit und eine positivere Bewertung des Staatsinterventionismus in der (Medien-)Öffentlichkeit. Aber die erhoffte »Delegitimierung des Neoliberalismus« (Ingrid Kurz-Scherf, Politikwissenschaftlerin ) blieb aus oder war jedenfalls nicht von Dauer. Dies erinnert an die Finanzkrise 2008/09, als eine strenge Regulierung des Bankensystems vorübergehend zur Mehrheitsposition, wenn nicht zum allgemeinen Konsens avancierte, ohne dass anschließend wirksame Kontrollmaßnahmen ergriffen worden wären.
Die sich überlappenden und zum Teil sogar wechselseitig verstärkenden Krisen der jüngsten Vergangenheit haben gezeigt, dass Deutschland zwar dank seiner guten Ressourcenausstattung, funktionsfähigen Behörden und föderalen Struktur für die Bewältigung solcher Ausnahmesituationen gerüstet, aber ökonomisch, sozial und politisch zerrissen ist. Dabei kommt es in einer Notlage mehr denn je auf gemeinsames und solidarisches Handeln der Gesellschaftsmitglieder an. Dieses lässt sich aber kaum realisieren, wenn jeder nur an sich denkt und hierdurch mitnichten an alle gedacht ist.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat die These einer Spaltung der Gesellschaft in seiner am 31. Dezember 2021 von ARD und ZDF ausgestrahlten Neujahrsansprache strikt zurückgewiesen. Er erklärte das Gegenteil mit der Begründung für richtig, dass er während der pandemischen Krisensituation überall eine beeindruckende Solidarität, eine überwältigende Hilfsbereitschaft sowie ein neues Zusammenrücken und Unterhaken wahrgenommen habe. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier schreibt in seinem Buch mit dem Titel »Wir«, das am 22. April 2024 erschienen ist: »Wir sind keine ›gespaltene‹, keine ›polarisierte‹ oder ›zerbrochene Gesellschaft‹.« Die Agenda 2010, die seinerzeit von Steinmeier als Gerhard Schröders Kanzleramtsminister maßgeblich konzipiert und von Scholz als Schröders Generalsekretär innerhalb der SPD durchgesetzt wurde, hat jedoch zu genau dem Resultat geführt, das beide Politiker heute aus verständlichen Gründen bestreiten.
Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser, Soziologen der Berliner Humboldt-Universität, haben die Einstellungen der Bevölkerung in vier »Arenen der Ungleichheit« (Oben – Unten: Armut und Reichtum; Innen – Außen: Migration und Integration; Wir – Sie: Gleichstellung und Anerkennung; Heute – Morgen: Ökologie und Klima) untersucht. Sie gelangten zu dem Ergebnis, dass in der Gesellschaft wie der politischen Öffentlichkeit größtenteils Konsens herrsche und die vertretenen Meinungen nur an sogenannten Triggerpunkten auseinanderdrifteten. Demnach nimmt ein großer Teil der Bevölkerung die soziale Ungleichheit zwar wahr und erkennt auch die Notwendigkeit einer Umverteilung des privaten Reichtums, aber nur ein kleiner Teil der Bevölkerung glaubt noch an die
Möglichkeit, das Gleichheitsziel auf diese Art und Weise zu erreichen.
Klaus Dörre spricht in diesem Zusammenhang von einer »demobilisierten Klassengesellschaft« – ein missverständlicher, wenn nicht irreführender Begriff, den Mau, Lux und Westheuser von dem Jenaer Soziologen übernehmen. Schließlich ist nicht die Klassengesellschaft demobilisiert, sondern allenfalls ein Großteil jener Mitglieder, die weiterhin der arbeitenden Klasse angehören, ohne sich dessen noch bewusst zu werden. Gleichzeitg vertritt die besitzende Klasse der Kapitaleigentümer ihre Verwertungsund Herrschaftsinteressen im digitalen Finanzmarktkapitalismus der Gegenwart unter massivem Einsatz propagandistischer Mittel. Wenn es sein muss, wird in aller Welt die Staatsmacht gegen Emanzipationsbestrebungen der ausgebeuteten und subalternen Gesellschaftsschichten mobilisiert.
Die genannten Autoren bewegen sich zu stark auf der Einstellungsebene, während sie die ökonomische Klassenspaltung und die soziale Position der einzelnen Bevölkerungsschichten teilweise aus den Augen verlieren. Von einer »Rückkehr der Ungleichheitsfrage«, die Mau, Lux und Westheuser zu erkennen glauben, oder einer »Wiederkehr der Klassen« – so lautet der Titel eines Buches, das Jakob Graf, Kim Lucht und John Lütten herausgegeben haben – kann jedenfalls überhaupt nicht die Rede sein, denn weder die materielle Ungleichheit noch die soziale Ungerechtigkeit oder die Klassen waren je weg. Vielmehr sind sie für »marktwirtschaftlich« bzw. kapitalistisch organisierte Gesellschaften konstitutiv, in denen einer kleinen Bevölkerungsminderheit die Unternehmen, Banken und Versicherungen gehören, während einer großen Bevölkerungsmehrheit nicht viel mehr als ihre Arbeitskraft gehört, von deren Verkauf sie nach wie vor leben muss.
Mau, Lux und Westheuser fassen den Klassenbegriff zu eng, indem sie auf Berufsklassen sowie die Bildung und die Qualifikation von deren Mitgliedern abheben, statt wie Marx und Engels alle Lohn-, Gehalts- oder Rentenabhängigen in der arbeitenden Klasse mit ihren Zwischen- und Übergangsschichten zu verorten. Sie verwenden den Klassenbegriff überdies ziemlich wahllos und verkennen zudem, dass der historisch-materialistische Klassenbegriff unabhängig von konkreten Bewusstseinsformen, subjektiven Empfindungen und sozialen Kämpfen einen Sinn ergibt. Dass große Ungleichheit und exzessiver Reichtum mehrheitlich abgelehnt werden, ohne dass man Handlungsperspektiven im Hinblick auf staatliche Umverteilungsmaßnahmen daraus ableitet, ist mit der These einer zunehmenden Gesellschaftsspaltung durchaus vereinbar, weil sich darin bloß die Widersprüchlichkeit des Alltagsbewusstseins von Unterprivilegierten und Deprivierten in einer modernen Klassengesellschaft, aber nicht die soziale Realität selbst niederschlägt.
Die sozioökonomische Ungleichheit ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die politische Kultur des Landes und sein demokratisches Repräsentativsystem. Das belegen die hohe Wahlabstinenz einkommensschwacher Bevölkerungsschichten, das fragwürdige Stimmverhalten von Abstiegsund Existenzsorgen geplagter Angehöriger der Mittelschicht sowie der enorme Lobbyeinfluss sehr reicher Bürger auf parlamentarische Entscheidungen. In einer für die Bevölkerung schwer durchschaubaren Krisen- bzw. Umbruchsituation wenden sich viele Menschen von »Maß und Mitte«, wie
Konservative ihr politisches Idealziel nennen, den etablierten Parteien und der parlamentarischen Demokratie ab, weil diese ihre sozialen Probleme nicht gelöst und ihre Interessen gar nicht oder nur mangelhaft vertreten haben.
Will man den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewahren, so heißt dies weder, dass sich Klassengegensätze in Luft aufgelöst haben, noch dass auf die Austragung von Interessenkonflikten verzichtet werden soll. Es geht beim sozialen Zusammenhalt vielmehr – wie bei der Solidarität – um einen Grundkonsens von Bevölkerungsschichten und verantwortungsbewussten Gruppierungen, der beinhaltet, dass man in einer exogenen, das heißt außerhalb des eigenen Landes oder politischen Einflussbereichs entstandenen Krisensituation wie einer Pandemie die Gesamtgesellschaft im Auge behält, also nicht chaotische oder anarchische Zustände herbeisehnt.
Um dem Zerfall unserer Gesellschaft vorzubeugen oder Einhalt zu gebieten, muss alles vermieden werden, was die sozioökonomische Ungleichheit erhöht und die Klassenspaltung zementiert, in denen sich diese materialisiert. Kanzlerappelle zum »Unterhaken«, »Zusammenstehen« oder »Zusammenhalten«, unterlegt von der Hymne »You’ll never walk alone«, die Fans aus mehreren Fußballstadien kennen, fruchten da wenig. Sie können auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die jüngsten Krisen das Land erschüttert und seine Bewohner*innen durchgerüttelt haben. Durch die rasche Aufeinanderfolge und die Kumulation der Krisenerscheinungen fühlen sich besonders Menschen überfordert, deren materielle Situation prekär ist.
Die wichtigste Lehre aus der Covid19-Pandemie, der Energiepreiskrise und der Inflation lautet, nicht länger den neoliberalen Verlockungen („Privat geht vor Staat“) zu erliegen und zumindest dort nicht mehr prioritär auf den Markt zu setzen, wo es um die öffentliche Daseins- und Gesundheitsvorsorge für die Bevölkerung geht. Es gibt einen solidarischen Weg aus der Mehrfachkrise: Wenn der Wohlfahrtsstaat künftig umfassender für einen Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur sorgt und genügend öffentliche Investitionen tätigt, kann die Gesellschaft sogar im Falle einer nationalen oder globalen Katastrophe funktionsfähig bleiben, die damit verbundenen Probleme bewältigen und ihre besonders gefährdeten Mitglieder schützen.
Die Klasse der Kapitaleigentümer vertritt ihre Herrschaftsinteressen im digitalen Finanzmarktkapitalismus unter massivem Einsatz propagandistischer Mittel.
Soziale Ungleichheit ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die politische Kultur und die Demokratie.