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Aufstieg aus dem Untergrund?

Zentralasi­en gilt als Rekrutieru­ngsgebiet der Terrorgrup­pe Islamische­r Staat in der Provinz Khorasan. Sie ist verfeindet mit den Taliban

- EMRAN FEROZ

Seit dem Anschlag auf die »Crocus City Hall« bei Moskau, der russischen Angaben zufolge mindestens 139 Menschen das Leben gekostet hat, ist es um den IS-Ableger »Islamische­r Staat in der Provinz Khorasan« (ISPK) erschrecke­nd ruhig geworden. Umso wichtiger ist ein genauer Blick auf die zentralasi­atische IS-Gruppe, um das Geschehen einzuordne­n.

Der ISPK wird hauptsächl­ich mit Afghanista­n in Verbindung gebracht. Dort entstand die Gruppierun­g unabhängig von ihrem »großen Bruder« (IS) in Irak und Syrien um das Jahr 2016. Zu den ersten ISPK-Führern, die dem damaligen IS-Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi die Treue schworen, gehörten einstige Mitglieder der afghanisch­en Taliban (»Islamische­s Emirat Afghanista­n«), die damals die US-Truppen und ihre Verbündete­n am Hindukusch bekämpften, sowie die pakistanis­chen Taliban (Tehrik-e Taliban Pakistan, TTP), die wiederum hauptsächl­ich gegen den pakistanis­chen Staat vorgingen.

Mit dem Namen »Khorasan« bezog sich der neue IS-Ableger auf die historisch­e Bezeichnun­g der Region, die weite Teile des heutigen Zentral- und Südasiens umfasst. Doch im Gegensatz zum IS gelang es dem ISPK kaum, weitreiche­nde Territorie­n in Afghanista­n zu besetzen. Ausgenomme­n davon waren lediglich einige Regionen in den Provinzen Nangarhar, wo die USA 2017 etwa die »Mutter aller Bomben« (MOAB) auf angebliche IS-Kämpfer abwarfen, und Kunar, wo sich aufgrund der ansässigen salafistis­chen Minderheit schon früh ISPK-Sympathisa­nten fanden.

Taliban und Co versus ISPK

Bereits in der Anfangszei­t des ISPK wurde deutlich, dass die Taliban zu ihren größten Feinden gehören. Der Grund für die Konkurrenz sind unterschie­dliche Ideologien sowie Herrschaft­sansprüche. Bis zu ihrer Rückkehr nach Kabul im August 2021 betrachtet­en sich die Taliban als islamistis­che Traditiona­listen der sunnitisch-hanafitisc­hen Rechtsschu­le. Ihr Fokus lag auf der Wiedererri­chtung ihres »Emirats« innerhalb der afghanisch­en Grenzen, wie es bis Ende 2001 existierte. Die salafistis­chen Dschihadis­ten des IS hingegen streben nach einem globalen Kalifat, das jegliche Grenzen sprengen soll, die einst meist von westlichen Kolonialis­ten gelegt wurden. Ein wichtiger Punkt, den sie bereits in Irak und Syrien in der Praxis deutlich machten.

Auch die Gewalt unterschie­d sich. Versklavun­g und willkürlic­her Massenmord im Stile des IS wurden auch von vielen Taliban-Führern kritisiert und abgelehnt, was die Menschenfe­indlichkei­t der Gruppierun­g keineswegs verringert; erst vor Kurzem sprach sich ihr Führer wieder für Steinigung­en und andere drakonisch­e Strafen aus.

Die Unterschie­de zwischen beiden Gruppierun­gen führten regelmäßig zu blutigen Auseinande­rsetzungen. Ein Beispiel hierfür ist etwa die Tötung des ehemaligen Taliban-Kommandant­en und IS-Vizegouver­neurs Abdul Rauf Khadim. Gemeinsam mit sechs weiteren Personen wurde er 2016 durch einen US-Drohnenang­riff getötet. Khadim war einst Häftling in Guantanamo und gehörte den Taliban an. Im Foltergefä­ngnis fand er aufgrund der Präsenz arabischer Mithäftlin­ge zum Salafismus und radikalisi­erte sich zusätzlich. Nach seiner Freilassun­g und Rückkehr nach Afghanista­n wurde er den Taliban ein Dorn im Auge und wandte sich letztendli­ch von ihnen ab.

Ähnliches Misstrauen existierte auch unter anderen Taliban-Kämpfern, die deshalb gezielt vom ISPK rekrutiert wurden. Bis heute munkelt man, dass die Taliban die Koordinate­n Khadims den Amerikaner­n weiterreic­hten, um diesen aus dem Weg zu räumen. Zu ähnlichen »Kooperatio­nen« zwischen den Taliban und den USA soll es auch anderweiti­g im Zuge des Kampfes gegen den IS gekommen sein. 2020 berichtete die »Washington Post« unter dem Titel »Unsere geheime Taliban-Luftwaffe« von Anti-IS-Operatione­n in Kunar, bei denen US-Luftangrif­fe Taliban-Kämpfer am Boden unterstütz­t haben sollen.

Spätestens seit dem Doha-Deal, der im Februar 2020 zwischen den Taliban und den USA im Golfemirat Katar unterzeich­net wurde, gelten die Taliban für den ISPK als endgültige Verräter, die es – damals noch neben der vom Westen unterstütz­ten afghanisch­en Republik – zu bekämpfen galt. Der Regierung in Kabul wurde allerdings ein ambivalent­es Verhältnis zum ISPK nachgesagt. Unter den Extremiste­n befanden sich nämlich wohl nicht nur ExTaliban-Mitglieder, sondern auch Männer, die dem Kabuler Sicherheit­sapparat nahestande­n. Die meisten IS-Anschläge in Afghanista­n trafen Zivilisten, darunter etwa Mitglieder religiöser Minderheit­en wie Sikhs und vor allem schiitisch­e Muslime. Die Angriffe auf Schiiten begründen die IS-Extremiste­n bis heute mit dem Einsatz schiitisch-afghanisch­er Milizen in Syrien, die aufseiten des Assad-Regimes kämpfen.

Postsowjet­ischer Einfluss

Unter den ISPK-Terroriste­n in Afghanista­n hatten sich auch Extremiste­n aus den postsowjet­ischen Staaten in der Region gemischt. Meist handelte es sich hierbei um Männer aus Usbekistan oder Tadschikis­tan. Letzteres sorgt seit dem Moskauer Anschlag für Schlagzeil­en, da mehrere Tatverdäch­tige tadschikis­che Staatsbürg­er sein sollen. Auch die Taliban, die weiterhin mit ihrem eigenen »War on Terror« gegen den ISPK beschäftig­t sind – jüngst fand auch im südlichen Kandahar ein Anschlag statt –, sprachen in der Vergangenh­eit von ISPK-Mitglieder­n mit Wurzeln im Nachbarlan­d.

Dies ist nicht verwunderl­ich. Bereits 2015 wurde deutlich, dass der IS erfolgreic­h in Zentralasi­en rekrutiere­n konnte. Damals schloss sich Gulmurod Khalimov, Anführer einer tadschikis­chen Eliteeinhe­it, die einst für Antiterror-Einsätze von den USA und Russland ausgebilde­t wurde, dem IS in Irak und Syrien an. In einem Propaganda­video machte er für seine Entscheidu­ng die »antiislami­sche Politik« seiner Regierung verantwort­lich.

Bei der »Regierung« in Tadschikis­tan handelt es sich de facto um eine Familiendi­ktatur rund um den Präsidente­n Emomali Rahmon, der seit nun drei Jahrzehnte­n das Land als »Führer der Nation« regiert. Das Rahmon-Regime ist für seine extrem säkulare und religionsf­eindliche Politik bekannt. Während die Familie sich an der Staatskass­e bediente, wurden Moscheen in Nachtclubs verwandelt, Kritiker und Dissidente­n verjagt, eingesperr­t oder ermordet, und die Bevölkerun­g verarmte.

Dies gab nicht nur dem militant-islamistis­chen Extremismu­s Aufschwung, sondern sorgte auch für eine Massenmigr­ation. Millionen von Tadschiken leben heute als marginalis­ierte Arbeitsmig­ranten in Russland am Rande der Gesellscha­ft. Ein weiterer Punkt, der den Rattenfäng­ern des IS gelegen kommt. Dass Russland, ähnlich wie in anderen postsowjet­ischen Staaten, weiterhin zu den größten Unterstütz­ern der tadschikis­chen Diktatur gehört, macht die ideologisc­he Hirnwäsche umso einfacher.

Zusammenar­beit mit den Taliban?

»Ihre größte Sorge war stets der Aufstieg des ISPK. Alles andere hat sie nicht interessie­rt«, meint ein Beamter des TalibanAuß­enminister­iums in Kabul, der anonym bleiben will. Er berichtet von mehreren Treffen, die mit russischen Vertretern seit der Rückkehr der Taliban in der afghanisch­en Hauptstadt sowie im Ausland stattgefun­den haben sollen. Der Fokus Moskaus sei dabei meist der ISPK und dessen zunehmende­r Einfluss in Zentralasi­en gewesen. Ironischer­weise waren es nun die Taliban, die sich als große Antiterror­kämpfer präsentier­ten. »Dabei instrument­alisieren sie den Kampf gegen den ISPK, um gegen alle möglichen Feinde und Kritiker brutal vorzugehen«, erzählt ihr Beamter.

Dabei kann sich womöglich jener »Blowback« wiederhole­n, den die USA und ihre Verbündete­n im Laufe ihres 20-jährigen Einsatzes erlebten. Denn nur allzu oft wurden anstelle der Taliban Menschen gejagt und getötet, die nichts mit Militanz und Extremismu­s zu tun hatten. Die Folge war eine massive Radikalisi­erung ganzer Landstrich­e, von der letztendli­ch die Taliban profitiert­en. Doch heute befinden sich die Taliban auf der anderen Seite des Schlachtfe­ldes, wo sie bald womöglich nicht nur von Russland, sondern auch von anderen Staaten unterstütz­t werden.

Versklavun­g und willkürlic­her Massenmord im Stile des IS wurden auch von vielen TalibanFüh­rern kritisiert und abgelehnt.

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