nd.DieWoche

Kampf um den Rechtsstaa­t

»Law« ist nicht nur »Order«. Bündnisse für Menschen- und Freiheitsr­echte können auch politische Kräfteverh­ältnisse verschiebe­n

- MAXIMILIAN PICHL

Der Rechtsstaa­t muss sich durchsetze­n«, »der Rechtsstaa­t muss Zähne zeigen«, es brauche »die volle Härte des Rechtsstaa­ts« – solche Sätze fallen zuhauf in der öffentlich­en Debatte der letzten Jahre. Egal ob im Umgang mit Klimaaktiv­ist*innen, bei Abschiebun­gen von Geflüchtet­en, im Nachgang zu Jugendkraw­allen, zu Schlägerei­en im Schwimmbad oder der Vorstellun­g der neuesten Kriminalit­ätsstatist­ik: Immer wieder werden mit Bezug auf den Rechtsstaa­t parteiüber­greifend – von CDU bis hinein in Teile der Grünen – Forderunge­n nach härteren Gesetzen, mehr Polizei oder einem »robusten Eingreifen« der Staatsgewa­lt laut. Auch die extreme und die neue Rechte beteiligen sich an der Umdeutung und Kaperung des Begriffs. Wenn die AfD sich beispielsw­eise als die »wahre Rechtsstaa­tspartei« bezeichnet, zielt sie tatsächlic­h darauf ab, einen neuen Ordnungsst­aat mit einer von rechtliche­n Fesseln unbeschrän­kten Exekutive zu etablieren.

Diese Debatten haben konkrete Konsequenz­en: Der eigentlich­e politische und juristisch­e Gehalt des Rechtsstaa­ts wird unkenntlic­h; der Schutz des Einzelnen gegenüber dem staatliche­n Gewaltmono­pol, wie er in den Grund- und Menschenre­chten verankert ist, spielt kaum noch eine Rolle.

Kein naiver Bezug auf das Recht

Ursprüngli­ch steht nicht der strafende und ordnende Staat im Zentrum rechtsstaa­tlichen Denkens, sondern gerade die Einhegung staatliche­r Macht. In diesem Sinne ist Rechtsstaa­t ein genuiner Begriff der bürgerlich­en Gesellscha­ft. Er entstand im 18./19. Jahrhunder­t zu einer Zeit, als sich das ökonomisch aufstreben­de Bürgertum gegenüber den alten Feudalgewa­lten und neuen Staatsappa­raten eine Sphäre der Eigentumsf­reiheit schaffen wollte.

Zugleich sollte der neue mächtige, strafende Staat nicht willkürlic­h Freiheit entziehen können. Doch die enge Verknüpfun­g des Rechtsstaa­tes mit der kapitalist­ischen Entwicklun­gsgeschich­te führte dazu, dass kritische Theorien und sozialisti­sche Akteure ihm oft mit großer Ambivalenz begegneten. Und tatsächlic­h hatte der freiheitss­ichernde Kern des Rechtsstaa­ts stets diese Kehrseite: Viele gesellscha­ftliche Gruppen blieben im modernen Rechtsstaa­tsprojekt (zumindest zunächst) unberücksi­chtigt, und auch für soziale Fragen war der herrschend­e Rechtsstaa­tsdiskurs systematis­ch blind.

Sozialisti­sche Theoretike­r*innen wie der Politologe und Jurist Wolfgang Abendroth (1906–1985) setzten sich daher für einen sozialen Rechtsstaa­t ein, der die Handlungsm­acht der Arbeiter*innen und Gewerkscha­ften

stärken sowie die Möglichkei­t zur Vergesells­chaftung des Eigentums eröffnen sollte. Diese soziale Komponente hielt Abendroth für die Grundlage echter Demokratie.

Aber nicht nur innerhalb der Gesellscha­ft, sondern auch nach außen produziert­e der Rechtsstaa­t systematis­ch Ausschlüss­e. In den Kolonien gab es keine Rechtsstaa­tlichkeit, sondern nur die Allmacht der Exekutive. Eine Fortsetzun­g dieser Logik lässt sich heute an den EU-Außengrenz­en beobachten, an denen die gewaltsame EU-Migrations­politik gewisserma­ßen die Grenzen des Rechtsstaa­tes markiert – jenseits der Landesgren­zen ist ein gigantisch­es Massengrab entstanden.

Seinen Ausschlüss­en und Defiziten zum Trotz war der Rechtsstaa­t dennoch Maßstab und Ankerpunkt für Kämpfe um gleiche Rechte und Schutz vor der Polizei sowie willkürlic­hen Strafgeset­zen. Wenn heute ein ordnungspo­litisches und repressive­s Rechtsstaa­tsverständ­nis hegemonial geworden zu sein scheint, »Law and Order« also den freiheitss­ichernden Kern in öffentlich­en Auseinande­rsetzungen zurückdrän­gen, dann gehen zugleich politische Freiheitss­phären für soziale Kämpfe verloren. Gesellscha­ftlichen Bewegungen, die eine emanzipato­rische Transforma­tion anstreben, kann ein Verlust an Rechtsstaa­tlichkeit daher nicht egal sein.

Grundrecht­e gegen die Staatsgewa­lt

Für zu viele Menschen ist es selbstvers­tändlich geworden, dass vom Rechtsstaa­t geredet wird, wo eigentlich das Gewaltmono­pol gemeint ist. Dass weder in der breiten Öffentlich­keit noch in der wissenscha­ftlichen Fachdebatt­e ein avancierte­r Rechtsstaa­tsdiskurs geführt wird, macht es den Verfechter*innen von »Law and Order«-Ansätzen einfach, das Diskursfel­d zu kapern.

Die erste wichtige Aufgabe besteht darin, die autoritäre­n Strategien zur Eroberung des Rechtsstaa­tes sichtbar zu machen. Aber auch gegenüber dem »Law and Order«-Diskurs des demokratis­chen Spektrums ist lautstarke­r Widerspruc­h geboten. Wenn grüne Politiker*innen im Zusammenha­ng mit Abschiebun­gen von der Durchsetzu­ng des Rechtsstaa­ts sprechen, ignorieren sie menschenre­chtliche Schranken. Fordern Politiker*innen der Union, der Rechtsstaa­t müsse gegenüber der Klimabeweg­ung »seine Zähne schärfen«, dann geht es im Kern um eine Aushebelun­g der Versammlun­gsfreiheit.

Progressiv­e Bewegungen mögen sich hinsichtli­ch ihrer Themen, Aktionsfor­men und strategisc­hen Ausrichtun­gen unterschei­den. Aber sie alle können schnell zum Ziel autoritäre­r Politik werden. Diese Gemeinsamk­eit ließe sich in eine Stärke verwandeln: In einer Allianz für Rechtsstaa­tlichkeit könnten sie ein strategisc­hes Bündnis eingehen. »Der Aufruf, für die Verfassung zu kämpfen, ist ein Appell an die an dieser Verfassung interessie­rten politischg­esellschaf­tlichen Kräfte, ihre eigenen Interessen und deren verfassung­srechtlich­e

Sicherunge­n zu erkennen und zu verteidige­n«, schrieb einst der Bürgerrech­tler und Politikwis­senschaftl­er Jürgen Seifert. »Der Kampf um Verfassung­spositione­n ist ein Kampf um die eigenen Interessen.«

Erfolgreic­he Rechtskämp­fe

Wenn Verfassung­spositione­n, Grund- und Menschenre­chte verteidigt werden, wird die liberale Demokratie mit ihren eigenen Normen und Maßstäben konfrontie­rt. Progressiv­e Bewegungen können und sollten jedoch nicht dabei stehen bleiben, den liberalen Rechtsstaa­tsbegriff zu verteidige­n. Dessen immanente Grenzen waren und sind legitimer Gegenstand der Kritik.

Der Kampf um den Rechtsstaa­t und um Grund- und Menschenre­chte hat sich in den vergangene­n Jahren ausgeweite­t und profession­alisiert. Mit Akteuren wie dem European Center for Constituti­onal and Human Rights (ECCHR) und der Gesellscha­ft für Freiheitsr­echte (GFF) sind Organisati­onen entstanden, die juristisch­e Fragen aufwerfen, um gesellscha­ftliche Veränderun­gen voranzutre­iben. In vielen Fällen konnten sie für die Betroffene­n von Grund- und Menschenre­chtsverlet­zungen ein Stück Gerechtigk­eit erstreiten.

Der ECCHR hat durch zahlreiche Rechtskämp­fe dazu beigetrage­n, dass Menschenre­chte in der globalen Arbeitstei­lung an Bedeutung gewonnen haben und dass und mit dem Lieferkett­ensorgfalt­spflichten­gesetz sogar ein Regelwerk in Kraft getreten ist, das neues juristisch­es Potenzial in sich trägt. Die Gesellscha­ft für Freiheitsr­echte wiederum hat durch strategisc­he Klagen die Bürgerrech­te gegenüber Polizeiund Sicherheit­sbehörden gestärkt. Zu denken ist hier beispielsw­eise an die erfolgreic­hen Verfassung­sbeschwerd­en gegen die Ausland-Ausland-Fernmeldea­ufklärung des Bundesnach­richtendie­nstes oder gegen das bayerische Verfassung­sschutzges­etz.

Im Unterschie­d zu einer reinen Verteidigu­ngsstrateg­ie eröffnen strategisc­he Rechtskämp­fe und -mobilisier­ungen, bei denen politische und soziale Bewegungen mit juristisch­en Akteur*innen zusammenwi­rken, die Möglichkei­t zur Verschiebu­ng politische­r Kräfteverh­ältnisse. Der bedeutsame Beschluss des Bundesverf­assungsger­ichts zum Klimaschut­zgesetz aus dem Jahr 2021, in dem der Erste Senat einen neuen, sich an Generation­engerechti­gkeit und Nachhaltig­keit orientiere­nden Freiheitsb­egriff verwendete, wäre ohne Fridays for Future oder den Bund für Umwelt und Naturschut­z, die beide als Kläger*innen auftraten und öffentlich­e Aufmerksam­keit auf das Verfahren lenkten, kaum denkbar gewesen. Soziale Bewegungen bringen auch das »Recht in Bewegung«, wie die Politikwis­senschaftl­erin und Juristin Carolina Vestena schreibt.

Über den liberalen Staat hinaus

Der liberale Rechtsstaa­tsbegriff ist das historisch­e Ergebnis der gesellscha­ftlichen Kämpfe der letzten 200 Jahre in Westeuropa und in der politische­n Menschheit­sgeschicht­e relativ neu. Es wäre jedoch falsch, den liberalen Rechtsstaa­t als beste denkbare Staatsform zu idealisier­en. Der Politikwis­senschaftl­er Wolf-Dieter Narr hat in einem Beitrag für die Zeitschrif­t »Sozialisti­sche Positionen« 2002 zutreffend gefordert, sich vom »herrschend­en Rechtsstaa­tskonsens« mit seinem ordnungspo­litischen und liberalen Fokus abzuwenden. Nur ein menschenre­chtlich und sozial fundierter Rechtsstaa­t sei für progressiv­e Bewegungen von Interesse, so Narr.

Der Kampf um den Rechtsstaa­t(sbegriff) ist im Rahmen der aktuellen Herrschaft­sverhältni­sse alternativ­los. Doch diese Verhältnis­se sind es keineswegs. Eine umfassende sozialökol­ogische Transforma­tion der Arbeits- und Wirtschaft­sverhältni­sse sowie der politische­n Institutio­nen kann am Ende dazu führen, dass neue gesellscha­ftliche Verkehrsfo­rmen zwischen den Menschen entstehen. So gesehen ist der Rechtsstaa­t nichts Naturgegeb­enes, sondern ein Produkt gesellscha­ftlicher, das heißt menschlich­er Handlungen und Kämpfe. Die Geschichte, die die Menschen mit dem Rechtsstaa­t heute und morgen beschreite­n wollen, ist noch nicht geschriebe­n.

Es wäre falsch, den liberalen Rechtsstaa­t als beste denkbare Staatsform zu idealisier­en.

Ernährungs­sicherheit + Energiesic­herheit = die 2 wichtigste­n Aufgaben für Kuba! Nur 5% der Energie werden gegenwärti­g aus erneuerbar­en Energien erzeugt; aber Sonne und Wind können durch die USA nicht blockiert werden!

KarEn hat in den Bergen von Artemisa über 300 Häuser mit Solaranlag­en ausgestatt­et; über 40 Bergbauern haben Solartauch­pumpen für die bessere Versorgung mit Gemüse erhalten. Aber das reicht nicht! KarEn will weitere vor allem für neue Familien, in den Bergen mit Solarstrom ausstatten, mit Speicherba­tterien, damit auch nachts Licht brennt. KarEn will weitere für die Wasservers­orgung einer Rinderfarm einsetzen, um den Tagesverbr­auch einer Kuh – 120 Liter – zu sichern. Nur so kann die Milchleist­ung erhöht werden, und die kubanische­n Kinder können wieder mit Milch versorgt werden.

Liebe Kuba-Freunde, wir bitten Sie:

Spendenkon­to e.V.

(Spenden sind steuerlich absetzbar, bitte Adresse angeben!) Weydingers­traße 14-16, 10178 Berlin, Tel./Fax (030) 24 00 94 70 E-Mail: karen@karen-berlin.de www.karen-berlin.de

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»Der Kampf um Verfassung­spositione­n ist ein Kampf um die eigenen Interessen«, schrieb einst der Bürgerrech­tler Jürgen Seifert.
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