Vergiss deinen Namen nicht, Ludmila!
Warum noch immer davon reden? Aus Pflicht. Die Geschichte der Shoah-Überlebenden Lidia Maksymowicz
Dezember 1986. Es ist das erste Mal, dass ich Lidia Maksymowicz in ihrem Haus in Czaniec treffe. Erst wenige Tage zuvor hatte sie der Bitte stattgegeben, sie über ihr Leben befragen zu dürfen. Als ich eintreffe, herrscht große Aufregung im Haus: Tags zuvor hatte Lidias Sohn geheiratet – und die Anspannung der Hochzeit nicht gut verkraftet. Ein Notarzt musste kommen, der Sohn wurde zur Beobachtung in eine Klinik gebracht. Kein glücklicher Start für eine Ehe. »Das geht vielen Kindern von uns so«, erklärt Lidia fast lakonisch, »sie haben unsere Probleme mitbekommen.« Uns? »Ja, von uns Kindern in Auschwitz«, und Lidia beginnt zu erzählen …
Vieles von dem, was Lidia berichtet, weiß sie selbst nur aus Erzählungen anderer Menschen – von ihrer Mutter, von älteren Kindern, die wie sie im Kinderblock 25 des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau gefangen gehalten wurden, von ihren Pflegeeltern. Als Ludmila Botscharowa wurde das Mädchen am 14. Dezember 1940 in Sambor geboren. Ihr Vater war als Offizier der Roten Armee dorthin an die neue Grenze zu Nazideutschland kommandiert worden. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 musste der Vater an die Front.
Für Ludmila, ihre Schwester Swetlana und die Mutter beginnt eine zweijährige Flucht in ein kleines Dorf nahe dem weißrussischen Witebsk. Dort leben die Eltern der Mutter Anna. Als sie im Frühsommer 1943 ankommen, ist das Dorf von den Deutschen niedergebrannt. Die Großeltern haben sich zu Partisanen in den Wald geflüchtet. Zu ihnen stößt auch Mutter Anna mit ihren beiden Töchtern. Frauen und Kinder halten sich oft in der Nähe der Eisenbahn auf. Die deutschen Posten halten sie für ungefährlich, doch die kleinen Beobachter zählen die Militärzüge an die Front, zählen Panzer, Kanonen und Munition. Zurück in der Partisaneneinheit werden diese Daten ins »Große Land« gefunkt, helfen der Armee bei der Verteidigung der Heimat. Eines Tages wird die Partisaneneinheit von den Deutschen umstellt, Frauen, Ältere und Kinder gefangen, die Männer können noch in den Wald flüchten. »Die Deutschen wollten von den Frauen wissen, wo sie die Männer finden könnten«, berichtet Lidia, »sie stellten die Kinder vor die Mütter und drohten, sie zu erschießen. Als die Frauen nicht antworteten, schossen sie – so starb auch meine Schwester Swetlana.«
Nach der Aktion werden Frauen, Kinder und Alte zum Bahnhof nach Witebsk getrieben und in Züge verladen, Ziel ist die Rampe in Auschwitz-Birkenau. Nach der Ankunft werden sie registriert, tätowiert. Anna Botscharowa erhält die Nummer
70 071, Tochter Ludmila die 70 072, die Großmutter die 70 073. Der Großvater, der sie begleitete, starb gleich nach der Ankunft, ebenso wie Michail, der Ziehsohn der Großeltern.
Die Geschichte der Lidia Maksymowicz ist heute nachzulesen in dem Buch »Ich war zu jung, um zu hassen«, von Paolo Rodari aufgezeichnet. Anlässlich einer Reise von Lidia Maksymowicz auf Einladung der Bewegung Memoria viva traf der italienische Journalist der römischen Tageszeitung »La Republica« die AuschwitzÜberlebende. Sie erzählt auch von ihrem Bemühen, ihrer inneren Verpflichtung, nachfolgenden Generationen in Schulen, auf Foren, in Publikationen von den Grauen des Vernichtungslagers zu berichten. In manchem unterscheidet sich die Niederschrift des Vatikan-Korrespondenten von Berichten, die Lidia früher zu Protokoll
gegeben hat. Erinnerungslücken des Alters? Verschobene Bilder des eigenen Lebens, die sich im Laufe der Jahre eingeschlichen hatten? Oder ist es vielmehr doch der große Schmerz, der die Auschwitz-Überlebenden einholt, je größer der Zeitraum ist, der sich zwischen den Aufenthalt in Birkenau und ihr heutiges Leben geschoben hat?
Schon seit Langem beobachten Historiker und Psychologen, dass es verschiedene Ansätze gab und gibt, mit dem erlebten, doch eigentlich unfassbaren Leid umzugehen. Viele Überlebende schwiegen – aus Angst, von ihren Mitmenschen nicht verstanden zu werden. Aus Scham vor denen, die nicht zurückkehrten. Andere wiederum sprachen, so oft sich ihnen eine Gelegenheit bot; zu ihnen gehört auch Lidia. Doch die einen wie die anderen holte die Vergangenheit im Abstand der Jahre immer stärker, immer brutaler ein, die schlaflosen Nächte vermehrten sich. Vielleicht war auch dies ein Grund, dass Lidia in ihren jetzigen Erinnerungen viele Ereignisse ausblendet. So den Mord an der Schwester Swetlana, so die Tragik ihrer Bemühungen, ihre leibliche Mutter wiederzufinden.
Nachdem Birkenau zusammen mit den anderen Auschwitzer Lagern Ende Januar 1945 befreit worden war, schickten die Ärzte der Roten Armee alle sowjetischen Kinder in heimatliche Sanatorien. Die kleine Ludmila – im Lager nannte man sie Ludja – jedoch hielt sich bei den Mädchen auf, die aus dem polnischen Warschau nach Auschwitz gekommen waren. Zwar betonte das Mädchen, es heiße Ludmila und komme aus Minsk – doch Minsk hieß auch ein Vorort von Warschau. Und so kam sie als Lidia in die polnische Pflegefamilie Rydzikowski. Wuchs dort auf, studierte, heiratete Andrzej Maksymowicz und gründete eine Familie. Erst 17 Jahre nach der Befreiung konnte sie mit Hilfe des Internationalen Roten Kreuzes ihre Mutter wiederfinden: Anna Botscharowa hatte in Bergen-Belsen überlebt. Großer Dank galt beim Wiederfinden auch Tadeusz Szymański. Der langjährige Direktor der Gedenkstätte Auschwitz, selbst fünf Jahre Häftling des Lagers, hatte sich vor allem um die überlebenden Kinder gekümmert.
Lidia hatte Glück – vergessen kann sie nie. Trost bietet ihr heute der Glaube, Trost bietet ihr eine Begegnung mit Papst Franziskus auf dem Petersplatz in Rom, der auch das Geleitwort zu diesem Buch schrieb. Das Vorwort verfasste die italienische Senatorin und Auschwitz-Überlebende Liliana Segre. Sie fragt: »Warum noch immer davon reden? Aus Pflicht. Aus der Pflicht zur Erinnerung. Jetzt und allezeit, wie ein Mantra im dritten Millennium.«
Viele Überlebende schwiegen, andere mussten reden. Alle ließ die Vergangenheit nicht mehr los.
Lidia Maksymowicz/Paolo Rodari: Ich war zu jung, um zu hassen. Meine Kindheit in Auschwitz. Heyne, 190 S., geb., 22 €.