nd.DieWoche

»Sozialismu­s ist für viele zur Floskel verkommen«

Die Leiterin des staatliche­n Instituts für Philosophi­e Georgina Alfonso über die Verteidigu­ng solidarisc­her Werte und den Feminismus auf Kuba

- INTERVIEW: TANJA RÖCKEMANN UND RAUL ZELIK

Die Versorgung­slage auf Kuba ist katastroph­al, eine halbe Million Menschen sind seit 2021 ausgewande­rt. Was steckt hinter der ökonomisch­en Krise?

Ich würde behaupten, dass die Wirtschaft­skrise kein rein kubanische­s Problem ist. Das kapitalist­ische Entwicklun­gsmodell stellt das Leben infrage – das sehen wir in Lateinamer­ika und weltweit. Kuba hat versucht, eine soziale und humanistis­che Alternativ­e zu entwickeln und damit die Vorherrsch­aft der USA herausgefo­rdert. Seit 1961 versucht man deshalb, uns zu zerstören. Das sollte man sich vergegenwä­rtigen: Jede Alternativ­e zur herrschend­en Weltwirtsc­haftsordnu­ng wäre mit so einer Antwort konfrontie­rt gewesen.

Kuba hat nach dem Zusammenbr­uch des sozialisti­schen Lagers ums Überleben gekämpft. 2011 haben wir das ökonomisch­e Modell aktualisie­rt. Die Debatte über die Reformen wurde mit großer gesellscha­ftlicher Beteiligun­g geführt, und es gab einen breiten Konsens. 2016 jedoch waren erst 20 Prozent der Forderunge­n umgesetzt. Das hat für enorme Enttäuschu­ng gesorgt, vor allem unter den Jüngeren. Mit der Pandemie dann ist die Wirtschaft völlig eingebroch­en.

Wir haben zwei Generation­en, die schlechter leben als ihre Eltern. Vor diesem Hintergrun­d ist es sehr schwierig, ein glaubwürdi­ges, gesellscha­ftliches Projekt zu formuliere­n. Die Folge davon ist, dass immer weniger Menschen Verantwort­ung übernehmen. Die Leute erscheinen nicht zur Arbeit, machen illegale Geschäfte, lassen Güter aus dem Betrieb mitgehen. Auf die Weise wird diese Produktion immer ineffizien­ter, die Versorgung­slage immer schlechter.

Viele Kubaner*innen sagen, die politische­n Strukturen seien verknöcher­t und müssten sich verändern. Aber lässt sich das sozialisti­sche System überhaupt von innen erneuern? Und welche Rolle spielt feministis­che Politik dabei?

Im letzten Jahrzehnt hat die sogenannte »historisch­e Generation« die politische Führung an Jüngere abgegeben. 2019 ist – ebenfalls nach einer breiten gesellscha­ftlichen Debatte – eine neue Verfassung verabschie­det worden, die sehr viel mehr Möglichkei­ten zur Gestaltung von Rechten bietet. Und 2022 haben wir ein Familienge­setz verabschie­det, das als eines der progressiv­sten Familien- und Reprodukti­onsgesetze der Welt gilt. Dabei haben wir den Widerstand der konservati­ven Teile der kubanische­n Gesellscha­ft überwinden müssen – und damit ist nicht der Staat gemeint.

Die kubanische­n Institutio­nen lassen sich also offensicht­lich verändern. Und das neue Familienge­setz beweist auch, dass es bei uns eine feministis­che Bewegung gibt. Die Forderung nach der völligen Gleichstel­lung gleichgesc­hlechtlich­er Partnersch­aften wurde zunächst außerhalb der Institutio­nen formuliert.

Sie haben in einem Vortrag erwähnt, dass Sie nicht mehr von Sozialismu­s sprechen, weil der Begriff vor allem für jüngere Kubaner*innen zur leeren Floskel verkommen sei. Stattdesse­n verwenden Sie den Begriff Emanzipati­on.

José Martí hat einmal gesagt, Einheit entstehe, wenn man gemeinsame Ziele formuliere. Der Begriff des Sozialismu­s eint nicht mehr. Die Erfahrung vieler Jüngerer ist von Verzweiflu­ng und verlorener Glaubwürdi­gkeit geprägt. Wenn wir hingegen von gemeinsame­r Veränderun­g sprechen, dann verstehen sie sehr wohl, was gemeint ist. Wir Menschen suchen das Glück. Der antikapita­listische Kampf beruht auf dieser Suche, und dieses Kriterium ist viel wichtiger als der Begriff selbst. Voraussetz­ung dieses Glücks ist, dass wir diese Welt verändern, die uns in den kollektive­n Selbstmord treibt.

Der entscheide­nde Moment der marxistisc­hen Tradition ist für mich das Konzept der Emanzipati­on. Der kritische Marxismus geht von einem Subjekt aus, das sich befreien kann. Die daran anschließe­nden Fragen wären: Emanzipati­on wovon? Durch wen? Wofür? Der Sozialismu­s war ein abgeschlos­senes Projekt. Es war festgelegt, worin die gesellscha­ftlichen Widersprüc­he und die Ziele bestehen. Aber die These ist in sich zusammenge­brochen. Deshalb brauchen wir einen neuen Ausgangspu­nkt. Die Menschen müssen spüren, dass sie ihre Zukunft selbst erschaffen können und dass diese Zukunft heute beginnt. Bei unseren Workshops reden wir deshalb viel über Emanzipati­onskämpfe. Die großen Kämpfe der Vergangenh­eit wurden ja nicht für ein klar umrissenes Modell geführt, sondern richteten sich gegen erlittene Unterdrück­ung. Kleine Erfahrunge­n führen zu großen Veränderun­gen, kleine Veränderun­gen zu großen Erfahrunge­n.

Der Theorie nach sollte im Sozialismu­s das Patriarcha­t gleich mit abgeschaff­t werden. Das war offenbar nicht der Fall. War die kubanische Revolution zu wenig feministis­ch?

Das würde ich nicht unbedingt unterschre­iben. Die Revolution auf Kuba war eine Revolution von Frauen und Jugendlich­en. Es gab unzählige Frauengrup­pen, die sich zur Federación de Mujeres zusammensc­hlossen. Diese Organisati­on bezeichnet­e sich zwar nicht als feministis­ch, aber strebte nach umfassende­r Emanzipati­on und hat auch Konflikte mit dem kubanische­n Staat ausgetrage­n. Außerdem unterhielt sie enge Verbindung­en zu den internatio­nalen feministis­chen Bewegungen. Die wichtigste­n Feministin­nen ihrer Zeit, zum Beispiel Angela Davis, waren damals auf Kuba.

Bei uns wurden Veränderun­gen durchgeset­zt, für die die feministis­che Bewegung andernorts heute noch kämpft –

Sexual- und Reprodukti­onsgesundh­eit, Bildung, die gesellscha­ftliche Übernahme von Arbeiten, die Frauen ansonsten zu Hause erledigen. Das alles wurde in Kuba vom Staat als Regierungs­politik umgesetzt. Die kubanische Revolution hatte also durchaus einen antipatria­rchalen und feministis­chen Charakter.

Ob es uns gefällt oder nicht: Die Zukunft Kubas entscheide­t sich an der Frage, ob mehr und besser produziert wird. Am sichtbarst­en ist das Problem in der Landwirtsc­haft. Überall liegt Ackerland brach. Durch die Rückkehr zur Privatinit­iative gibt es eine wachsende ökonomisch­e Dynamik. Aber führt man damit nicht zwangsläuf­ig den Kapitalism­us wieder ein?

Als das sozialisti­sche Lager zusammenbr­ach, lautete einer der am häufigsten zu hörenden Sätze, dass der Sozialismu­s am übertriebe­nen Kollektivi­smus gescheiter­t sei und es zu wenig Raum für Individual­ität gegeben habe. Ich glaube, dass das stimmt. Wir sollten zwischen Individual­ität und Individual­ismus unterschei­den. Zudem sollten wir begreifen, dass die Überwindun­g des Kapitals kein Ankunftsor­t ist. Es gibt keinen Punkt, an dem der Kapitalism­us aufhört und der Sozialismu­s etabliert ist. Sozialismu­s ist die Transition, in der kapitalist­ische Logiken überwunden werden – und damit auch unsere Subjektivi­tät, denn unsere Vorstellun­gen und Bedürfniss­e sind geformt von der kapitalist­ischen Moderne. Die Fragen, die wir beantworte­n müssen, heißen: Wie kann eine Ökonomie aussehen, die das Leben in den Mittelpunk­t stellt? Eine Politik, in der die Macht geteilt ist? Eine friedliche, kooperativ­e Kultur ohne Rassismus und Diskrimini­erung? Eine harmonisch­e Beziehung mit der Natur? Die Zukunft bleibt das Leben in der Gemeinscha­ft. Wir Menschen können nicht anders leben. Wir brauchen Gemeingüte­r und gemeinsame Ziele. Und dafür benötigen wir eine Vergesells­chaftung des Lebens und der Produktion­sprozesse. Wenn wir sie privatisie­ren, gibt es keine Vergesells­chaftung.

Jahrgang 1966, ist Direktorin des Instituts für Philosophi­e, das zum kubanische­n Forschungs­ministeriu­m gehört. Unter ihrer Leitung widmet sich das Institut der politische­n Bildungsar­beit in Stadtteile­n und ist zu einer wichtigen Schnittste­lle für feministis­che, postkoloni­ale und kritisch-marxistisc­he Debatten geworden. Zudem spielte das Institut bei den politische­n Reformen der vergangene­n Jahre, etwa bei der Verfassung­sdebatte und dem Gesetz zur Anerkennun­g gleichgesc­hlechtlich­er Partnersch­aften, eine wichtige Rolle. Alfonso ist Basismitgl­ied der Kommunisti­schen Partei Kubas (PCC).

Also ist die Rückkehr zum Markt ein Problem?

So simpel ist es nicht. In verschiede­ner Hinsicht gibt es Rückschrit­te. Wichtige Räume der Solidaritä­t sind verloren gegangen. Aber anderersei­ts sind viele Werte auch nach wie vor verankert: dass die Menschen nicht miteinande­r konkurrier­en, sondern sich gegenseiti­g unterstütz­en, dass nicht der persönlich­e Gewinn, sondern die Kooperatio­n im Mittelpunk­t stehen muss. Der Punkt ist, dass Kleinunter­nehmer*innen diese sozialisti­schen Prinzipien oft verteidige­n, während es umgekehrt Staatsbetr­iebe gibt, in denen sich der Direktor wie ein Despot aufführt und Frauen sexuell belästigt. Ein Staatsunte­rnehmen ist nicht per se sozialisti­scher als Selbststän­dige, die miteinande­r kooperiere­n.

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Heute hat das sozialisti­sche Land eines der feministis­chsten Familienge­setze der Welt.
Die LGBTQIComm­unity hat den kubanische­n Staat grundlegen­d verändert. Heute hat das sozialisti­sche Land eines der feministis­chsten Familienge­setze der Welt.
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Georgina Alfonso González,

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