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Auschwitz ohne Auschwitz

Waren die Nationalso­zialisten bloße Befehlsemp­fänger oder fanatische Überzeugun­gstäter? Der oscarprämi­erte Spielfilm »The Zone of Interest« greift diese Frage auf und beantworte­t sie – wenig zufriedens­tellend

- TIMON WISSFELD

Jonathan Glazers »The Zone of Interest« handelt vom trauten Familienle­ben des KZ-Kommandant­en Rudolf Höß dicht an der Mauer zum Konzentrat­ionsund Vernichtun­gslager Auschwitz. Die Überlageru­ng von privater Idylle und kalter Vernichtun­g ließ das Publikum schaudern und jubeln zugleich. In der Zeitung »Welt« schrieb man vom »vielleicht besten Holocaust-Film, der je gedreht wurde«, und selbst in der extrem rechten »Sezession« wurden überwiegen­d lobende Worte gefunden. Das Publikum kommt nicht umhin, blanke Abscheu gegenüber dem Spießbürge­rleben in unmittelba­rer Nähe zum industriel­len Massenmord zu entwickeln, obwohl dieser in keiner Sekunde des Films visuell dargestell­t wird. Geht es dabei überhaupt um die Shoah?

Darstellun­g des Undarstell­baren

Die Frage nach der Darstellba­rkeit der Shoah begleitet den »Holocaust-Film« seit seinen Anfängen. Für den Soziologen und Filmtheore­tiker Siegfried Kracauer war der Blick auf den »Haufen gemarterte­r menschlich­er Körper in Filmen über Konzentrat­ionslager« eine Möglichkei­t, das »Grauenhaft­e aus seiner Unsichtbar­keit hinter den Schleiern von Panik und Fantasie« zu erlösen und es erst so bekämpfbar zu machen. Herbert Marcuse sah in der realitätsn­ahen Darstellun­g hingegen die Gefahr ihrer Eingemeind­ung in übliche Sehgewohnh­eiten, in das Greifbare. Denn besteht die Besonderhe­it der Shoah in der Überwältig­ung des Begreifbar­en, so muss auch deren Visualisie­rung abstrahier­t und gebrochen sein.

Viele Filme haben sich an der Darstellun­g des Undarstell­baren versucht und ihrerseits eine Ikonisieru­ng heute bestens bekannter Zeichen produziert. Vertraut ist das geschulte Publikum mit der Großaufnah­me von Duschköpfe­n, dem Guckloch, dem Geschrei hinter der verschloss­enen Stahltür, mit Bergen an Brillen, Haaren, Koffern und Schuhen. Das Angedeutet­e gewinnt gerade durch das Ausgelasse­ne und Abwesende seine Bedeutung. Claude Lanzmanns neunstündi­ger Dokumentar­film »Shoah« aus dem Jahre 1985 verzichtet etwa gänzlich auf die filmische Darstellun­g der Shoah, schließlic­h sei kein Schauspiel, keine Nachahmung, kein Bild in der Lage, zu zeigen, was gezeigt werden müsste.

»The Zone of Interest« bedient sich in Fülle am reichen Repertoire bekannter Andeutunge­n: Rauch, Schreie, Schussgerä­usche, Schornstei­ne, Mauer. Gerade die indexikali­schen Zeichen, also Zeichen mit UrsacheWir­kung-Beziehung,

funktionie­ren für den beabsichti­gten Zweck gut. Rauch ist die Folge von Feuer, ein lauter Knall ist die Folge eines Schusses. Das Publikum wird den gesamten Film über – indirekt, aber gewisserma­ßen mit dem Vorschlagh­ammer – auf die Vernichtun­g des Lebens hinter der Mauer gestoßen. Erwischt es sich dabei, die Hintergrun­dkulisse auch nur für einen Moment auszublend­en, fühlt es sich einer Erkenntnis nahe. Der Erkenntnis der Unmenschli­chkeit eines alltäglich­en Lebens, während nebenan das Grauen wütet.

Was ist das Böse?

Nicht zu Unrecht wird »The Zone of Interest« daher mit Hannah Arendts Diktum von der Banalität des Bösen in Verbindung gebracht, als deren Prototyp Rudolf Höß im Film auftritt. Höß wird inszeniert als klassische­r Schreibtis­chtäter – gehorsam, zuverlässi­g, pflichtbew­usst, arbeitsam, ordentlich; gleichzeit­ig kinderlieb, tierlieb, naturliebe­nd. An dieser Darstellun­g hat Rudolf Höß mit seinen autobiogra­fischen Aufzeichnu­ngen »Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben« zu Lebzeiten noch aktiv mitgearbei­tet. Sein Versuch, sich selbst einen gewissenha­ften, gleichzeit­ig aber vielschich­tigen Charakter anzudichte­n, dessen Psyche eine Untersuchu­ng Wert wäre, ist gleich doppelt ideologisc­h: einmal, weil seine Eigenwahrn­ehmung die »unvernünft­igen«, wahnhaften Beweggründ­e verdrängt und durch als unschuldig verstanden­e Rechtferti­gungen ersetzt – in der Psychologi­e spricht man von (privater) Rationalis­ierung. Zudem ist sein Seelenlebe­n als das eines Individuum­s nicht der Rede wert, nur als Exempel der NS-Psyche zu untersuche­n.

Die Herausbild­ung eines Denkens, das durch und durch gesellscha­ftlich funktional­isiert ist, hat zweifelsoh­ne den Grundstein gelegt für jenen Charakter, der Auschwitz erst möglich machte. Es ist, so schrieb Theodor W. Adorno, kein Zufall, dass die »seelisch Verkrüppel­ten« an die Spitze der totalitäre­n Hierarchie­n gelangen, weil deren durch IchSchwäch­e geprägte Psychologi­e »genau harmonisie­rt mit der Irrational­ität der Zwecke«. Die Zurichtung der Psyche in der Moderne ist eine notwendige Bedingung, jedoch nicht die hinreichen­de Begründung für den Zivilisati­onsbruch in Auschwitz, wie es das Beispiel Höß am besten zeigt.

Höß trat bereits 1922 der NSDAP bei, also lange bevor es angeblich opportun gewesen sei. Er begeistert­e sich für nationalso­zialistisc­he Schriften von Hitler, Goebbels oder Rosenberg und leitete daraus die Notwendigk­eit der absoluten Judenverni­chtung ab. 1923 beteiligte Höß sich am Mord an einem Menschen, den er für einen Kommuniste­n

hielt, schloss sich nach seiner anschließe­nden Haftstrafe dem radikal-völkischen Siedlerbun­d Artamanen an. Die vielfach vorgebrach­te Kritik an Arendts »Banalität des Bösen«, das Bild des autoritäts­hörigen Schreibtis­chtäters verschleie­re den Fanatismus und vernichtun­gsbereiten Antisemiti­smus, lässt sich auch auf Höß und »The Zone of Interest« übertragen.

Die Leitung von Auschwitz war keine Arbeit wie jede andere, weil ihr Zweck – die Vernichtun­g um der Vernichtun­g willen – als gegenratio­nal, nicht nur als irrational zu betrachten ist. Keine moderne Kultur und Gesellscha­ft hatte sich zuvor von jeglicher Realität, Moral und Zweckratio­nalität abgekehrt. Auf psychologi­scher Ebene avancierte das Pathologis­che zur Normalität, Destruktiv­ität zur gesellscha­ftskonform­en Persönlich­keitsstruk­tur.

Das Publikum nimmt Höß’ bürgerlich­es Familienle­ben in »The Zone of Interest« zwar als normal wahr, kann dessen Normalität aber treffend als eine pathologis­che durchschau­en. Offen bleibt jedoch, was dieses Pathologis­che konkret ausmacht. Kurz gesagt, Regisseur Glazer konfrontie­rt das Publikum mit der Banalität, nicht aber mit dem Bösen. Wenn gar der Kommandant des KZ Auschwitz bloß eine ausführend­e menschlich­e Hülle gewesen sein soll, wer gab dann überhaupt die Befehle?

Menschlich­e Kälte

Das Böse wird in »The Zone of Interest« zur Naturgewal­t; vor allem das Böse im Menschen. Wenige Tage nach Glazers Dankesrede bei der Oscar-Preisverle­ihung – der Film sei nicht produziert worden, um »uns damit zu konfrontie­ren, was man damals gemacht hat, sondern was heute geschieht« – schrieb Piotr Cywiński, Direktor der Auschwitz-Gedenkstät­te, wohlwollen­d auf der Plattform X, »The Zone of Interest« sei kein Film über die Shoah, sondern in erster Linie eine tiefgreife­nde Warnung über die Menschheit und ihre Natur. Sollte man aus materialis­tischer Perspektiv­e ohnehin schaudern, wenn die »menschlich­e Natur« ins Feld geführt wird, so lässt sich aus Cywińskis Kommentar eine verheerend­e Aussage ableiten: Unmenschli­chkeit ist menschlich­e Natur. Auschwitz war menschlich­e Natur.

Im letzten Drittel des Films reist die Mutter von Rudolfs Frau Hedwig überrasche­nd ab. Hedwig wird wütend und richtet ihre Aggression gegen das zufällig anwesende Hausmädche­n: »Wenn ich wollte, würde mein Mann deine Asche sofort über den Feldern von Babice verstreuen.« In diesem kurzen Ausbruch von Feindselig­keit scheint nicht das Böse in Form eines fanatische­n Nazismus durch, sondern die persönlich­e Kränkung Hedwigs. »The Zone of Interest« lässt das Publikum glauben, damit dem Kern des Nationalso­zialismus auf die Schliche gekommen zu sein: keinerlei Ideologie, dafür eine Menge Kaltherzig­keit.

Erst durch die gleichzeit­igen Auslassung­en – der NS-Ideologie, des Zivilisati­onsbruchs und der Darstellun­g der Vernichtun­g – wird Auschwitz aus seiner Spezifik und seinem Kontext gelöst und damit einer Normalisie­rung zugeführt. In »The Zone of Interest« geht es nicht um Auschwitz, sondern um das »Prinzip Auschwitz«. Für Arendt und ihr heutiges Erbe gilt das Konzentrat­ionslager als notwendige Kulminatio­n moderner Gesellscha­ftsverwalt­ung, als bloßes Resultat von Bürokratie und menschlich­er Kälte, nicht als Ergebnis der autoritäre­n Pseudo-Rebellion und des gleichzeit­ig modernen wie antimodern­en antisemiti­schen Wahns.

»The Zone of Interest« formuliert eine abstrakte Kritik an Ordnung, Disziplin, Nüchternhe­it und Macht, ohne das Unbegreifb­are der Shoah greifbar zu machen. Könnte dann die Mauer, die Höß’ Garten vom KZ trennt, nicht auch die Mauer zwischen Israel und Palästina sein und sind nicht alle Israelis ein bisschen wie Familie Höß, wie Glazer es selbst andeutete? Einem solchen Geschichts­revisionis­mus hätte »The Zone of Interest« nichts zu erwidern. Die Mauer des KZ Auschwitz zum Symbol einer Mauer zu ernennen, kann nur, wen der Grund ihres Baus nicht kümmert.

Regisseur Glazer konfrontie­rt das Publikum mit der Banalität, nicht aber mit dem Bösen.

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