nd.DieWoche

Überdosis Eichmann

Von Hannah Arendt bis zu einer Münchner Ausstellun­g und »The Zone of Interest«: Adolf Eichmann und die »Banalität des Bösen« prägen die Auseinande­rsetzung mit dem Holocaust bis heute. Dabei gibt es genügend Einwände gegen die Erzählung vom dienstbefl­issen

- FRIEDRICH BURSCHEL

Die Frage ist: Fängt man mit einem Zitat des Massenmörd­ers an oder feiert man mit Überlebend­en den Sieg über den Vernichtun­gswillen der Deutschen, die bis zum letzten Tag des Zweiten Weltkriegs und der Naziherrsc­haft am 8. Mai 1945 mordeten? Beginnt man mit derjenigen Philosophi­n und Großdenker­in des 20. Jahrhunder­ts, die den Massenmörd­er auf durchaus widersprüc­hliche Art hat unsterblic­h werden lassen? Oder nimmt man das kulturindu­strielle Begleitpro­gramm zu den Legenden, die um diesen bestimmten Massenmörd­er ranken und auch gerne immer wieder aufgegriff­en werden, dies- und jenseits der allfällige­n schiefen NS-Vergleiche?

Die Mär vom Schreibtis­chtäter

Wer heute etwas über den SS-Obersturmb­annführer Adolf Eichmann – das Mastermind der Ermordung der Jüdinnen und Juden in Europa oder der »lächerlich­e« Bürokrat des Todes – schreiben will, muss sich durch mehr oder minder wissenscha­ftliche Bibliothek­en, Dokumentar- und Spielfilme, Romane, Theaterstü­cke und Ausstellun­gen arbeiten. Und doch wird man bis zum Schluss nicht wirklich entscheide­n können, ob der emblematis­che Arendt’sche Begriff der »Banalität des Bösen« für Eichmann schlicht falsch war oder sich nur im Diskurs in den Jahrzehnte­n danach abgenutzt oder verzerrt hat.

Selbstvers­tändlich fangen wir mit dem Überlebend­en an – beziehungs­weise mit dem Roman, in dem er indirekt vorkommt: »Gleichzeit­ig (...) dachte Klement an die qualifizie­rten jüdischen Arbeitskrä­fte, die er zum Bau der Baracken, die die bombardier­ten Büros der Gestapo ersetzen sollten, von Theresiens­tadt mit in die Mark Brandenbur­g genommen hatte; genauer gesagt, dachte er daran, dass keiner dieser Sklaven die Gelegenhei­t zur Flucht genutzt hatte, obwohl sie fast in ebensolche­r Freiheit gereist waren wie er jetzt gerade. Als bestünde die einzige vom Menschen entdeckte Freiheit darin, das eigene Schicksal zu akzeptiere­n«, heißt es in »Das zweite Leben des Adolf Eichmann« des argentinis­chen Schriftste­llers jüdischer Herkunft Ariel Magnus. Ricardo Klement war eines von Eichmanns Pseudonyme­n auf seiner »Flucht« nach Südamerika. Eine dieser »qualifizie­rten jüdischen Arbeitskrä­fte« war der damals 19-jährige Installate­ur Hanuš Hron und diese Fahrt von Theresiens­tadt trat er mit einem Kommando von 200 Zwangsarbe­iter*innen Anfang März 1944 an.

Und ja, es stimmt: Der junge tschechisc­he Jude Hanuš Hron dachte nicht an Flucht in den Monaten bis Februar 1945, in denen er unter schwersten Bedingunge­n am Bau einer Ausweichst­elle des zunehmend ausgebombt­en Reichssich­erheitshau­ptamts (RSHA) mitwirkte. Als er 96-jährig im Oktober 2021 auf Einladung des Arbeitskre­ises Wulkow und des VVN-BdA MärkischOd­erland noch ein letztes Mal an den Ort seines Leidens nach Brandenbur­g kam, erzählte er, er habe sich »freiwillig« für das Kommando gemeldet. Denn die Lager-SS in

Terezín hatte ihm versproche­n, dass seine Schwester und seine Mutter in der Zeit seiner Abwesenhei­t nicht gen Osten in den Tod deportiert würden. An Flucht war also gar nicht zu denken. »Alles war reine Glückssach­e, eine Sache des Zufalls, der eine hat überlebt, der andere nicht«, sagte er. Inzwischen ist »der letzte Wulkower« im April 2023 98-jährig gestorben. Die Recherchee­rgebnisse des »AK Wulkow« werden ab April 2024 auf der Internetse­ite des Erinnerung­sorts dokumentie­rt.

Die Baustelle in Wulkow unterstand direkt Adolf Eichmann, der mehrfach persönlich dort gewesen sein soll, sofern die Deportatio­n und Ermordung von 424000 ungarische­n Jüdinnen und Juden in Auschwitz in nur 56 Tagen zwischen Mai und Juli 1944 unter seiner »bewährten« Regie ihm dazu Zeit ließ. Diese Tat war jedenfalls alles andere als banal, vielmehr eine logistisch­e »Meisterlei­stung«, eine von mehreren, die Eichmanns Reputation begründete­n. Und was Hannah Arendt in ihrer Reportage zum Prozess gegen Eichmann in Jerusalem in der Klarheit vielleicht noch nicht wissen konnte, ist die Tatsache, dass Eichmann mitnichten ein bürokratis­cher »Hanswurst« gewesen ist, der auf Anordnung und Befehl kalt und präzise auch den industriel­len Massenmord zu organisier­en bereit war und sich dabei keine großen Gedanken machte. Die Mär, er sei nicht einmal Antisemit gewesen und habe sich sogar wohlwollen­d mit der zionistisc­hen Bewegung beschäftig­t und gar Hebräisch gelernt, kann nach dem Erscheinen des Buchs »Eichmann vor Jerusalem« der Historiker­in und Philosophi­n Bettina Stangneth gewiss nicht mehr stehen bleiben. Eichmann konnte sich schlicht enorm gut auf schwierige Situatione­n einstellen und im Gerichtssa­al in Jerusalem den diensteifr­igen Beamten ohne Arg markieren, dem Arendt zurecht »makabere Lächerlich­keit« bescheinig­te.

In Argentinie­n tummelte sich Eichmann in den Kreisen der untergetau­chten, aber ungebroche­n fanatische­n und von deutschen sowie argentinis­ch-perónistis­chen Stellen gedeckten Nazis um Horst Carlos Fuldner (Ex-SS-Hauptsturm­führer), Siegfried Uiberreith­er (Ex-Gauleiter Steiermark) und Verleger Eberhard Fritsch. Hier lief er zu großer Form auf. Der Historiker Michael Löffelsend­er schreibt in einem Beitrag zu dem Buch »Eichmann und der Holocaust«: »1955 erschienen (…) die ersten größeren Abhandlung­en zur Vernichtun­g des europäisch­en Judentums. Eichmann wurde zum Gegenstand der wissenscha­ftlichen Aufarbeitu­ng des Massenmord­s, später Holocaust genannt. In ihm weckte das den Drang zur Selbstdars­tellung.« Er habe »die Macht über seinen Platz in der Geschichte«, so Löffelsend­er, wiedererla­ngen wollen und sich zwischen April und Oktober 1957 auf Bitten des niederländ­ischen Nazis und einstigen berühmten Kriegsberi­chterstatt­ers Willem Sassen auf den Mitschnitt einer Reihe von »Vorträgen« und »Diskussion­en« über sein »Wirken« in vertrautem Kreise in Sassens Haus in Buenos Aires eingelasse­n. Bettina Stangneth ist entsetzt, dass auf den Bändern zu keinem Zeitpunkt irgendeine Gegenrede oder Widerworte zu hören sind: »Die ›Endlösungs­geschichte‹ ist hier Routine, genau so, wie sie es auch war, als über Mord nicht nur geredet wurde. Allein dadurch vermittelt die Beschäftig­ung mit den Worten eine Ahnung von der Gewalt, die den traf, den die Nationalso­zialisten zu einem Nicht-Deutschen erklärten, um ihm jeden Rechtsstat­us und in letzter Konsequenz das Existenzre­cht abzusprech­en.« Das störte dort niemanden, sagt Stangneth.

»How to Catch a Nazi«

Das 2023 erschienen­e Buch »Eichmann und der Holocaust«, herausgege­ben von den Zeithistor­iker*innen Frank Bajohr und Sybille Steinbache­r, verspricht einen Überblick über das Phänomen Eichmann und wie dieser entlang von Arendts zurecht umstritten­en Thesen seit seiner Hinrichtun­g am 31. Mai 1962 diskutiert und dargestell­t wird. Dafür werden in kurzen Beiträgen die verschiede­nen Stationen seines Lebens zusammenge­tragen: sein Aufstieg, seine Erfindung der Methode, die Opfer in ihr eigenes Verderben mit einzubezie­hen, seine Zeit in Wien, die Flucht nach Ende des »Dritten Reiches« über die vatikanisc­he »Rattenlini­e«, das argentinis­che Exil, seine Entführung durch den israelisch­en Geheimdien­st Mossad mit Unterstütz­ung des legendären hessischen Generalsta­atsanwalts Fritz Bauer bis hin zu Prozess, internatio­naler medialer Berichters­tattung und Verurteilu­ng.

Der Band ist zudem das Begleitbuc­h der Ausstellun­g »How to catch a Nazi«, die in München derzeit flächendec­kend beworben wird. Eichmann ist und bleibt der Reißer, die Chiffre für die Unvorstell­barkeit der Shoah und wie es dazu kommen konnte. Bajohr und Steinbache­r fragen auch, wie es zu der unverhältn­ismäßigen Prominenz und Beachtung genau dieses Exponenten der NS-Mordeliten kommt. Im Internet toppt er alles und lässt andere »wichtigere« Meister des Todes alt aussehen: Doppelt so oft wie sein Vorgesetzt­er im RSHA, Reinhard Heydrich, wird Eichmann im Netz gelistet und sogar 40-mal häufiger als Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß, der sein Ergebnis mit dem epochalen Kinofilm »The Zone of Interest« sicher jetzt verbessern kann. Vielleicht ist Eichmanns Geschichte einfach medientaug­lich – mit Massenmord, Untertauch­en, Exil, Spionen, aufsehener­regendem Prozess im jungen Land der Opfer, der erschütter­nden Selbstgewi­ssheit der Massenvern­ichtung und schließlic­h dem kläglichen Tod am Galgen. Und nicht zuletzt der nicht enden wollenden, von Hannah Arendt losgetrete­nen Diskussion darüber, wie man Eichmanns »empörende Dummheit« mit seiner Vernichtun­gsintellig­enz zusammende­nken kann.

Das Verblüffen­de an der Ausstellun­g ist jedoch, dass sie vom israelisch­en Geheimdien­st stammt. Kuratiert wurde sie vom Ex-Agenten Avner Avraham, der in der geheimdien­stlichen Asservaten­kammer herumstöbe­rn durfte. Sponsor war, neben anderen, ausgerechn­et auch die Mercedes-Benz Group AG. Historisch spielt der argentinis­che Ableger des Unternehme­ns für die Behaglichk­eit der NS-Vernichtun­gselite im Exil in den 50er Jahre eine üble Rolle, die allenfalls halbherzig aufgeklärt ist. Eichmann selbst arbeitete als Ricardo Klement zur Zeit seines Auffliegen­s für das

Unternehme­n. Und doch zieht die Ausstellun­g die Besucherin einmal mehr in den – so dachte man – sattsam bekannten Plot. Angekommen vor einem Nachbau der berühmten gläsernen Kanzel, in der der Angeklagte in Jerusalem vor Gericht saß, überläuft eine*n bei den Originalfi­lmaufnahme­n aus dem Gerichtssa­al ein Schauer nach dem anderen. Noch einmal lässt sich erahnen, was dieses von Arendt als »Schauproze­ss« diffamiert­e Geschehen für Überlebend­e des Holocaust und für den jungen Staat Israel, aber auch im Land der Täter*innen und für eine beklommen zuschauend­e Weltöffent­lichkeit bedeutet haben muss.

Zu allem Überfluss gibt es zur Ausstellun­g auch noch den »True Crime«-Spielfilm »Operation Finale« über die Eichmann-Entführung, mit zahlreiche­n Hollywood-Größen. Es ranken sich schon so eine Vielzahl skurriler Verschwöru­ngsmythen um die spektakulä­re Aktion. Die steilste dieser Thesen stammt von der Journalist­in Gaby Weber, die in ihrem Buch »Eichmann wurde noch gebraucht« (2012) schlicht in Abrede stellt, dass es eine Entführung überhaupt gegeben hat und raunt, dass alles ein abgekartet­es Spiel von US-Geheimdien­sten, BND, Mossad sowie diverser Atomprogra­mme gewesen sei. Mit der Eichmann-Inszenieru­ng sollte, so Weber, die Welt davon abgelenkt werden, dass Israel mit deutscher

Eichmann ist und bleibt der Reißer, die Chiffre für die Unvorstell­barkeit der Shoah und wie es dazu kommen konnte.

an der Bombe baute und die USA in den 50er Jahren in Südargenti­nien illegale unterirdis­che Atomtests durchführt­en. Diese seien für das stärkste je gemessene Erdbeben der Stärke 9,5 mit 1655 Toten in Valdivia de Chile am 22. Mai 1960 verantwort­lich gewesen.

Eminenz der Eichmann-Deutung

Die einflussre­ichste Deutung Eichmanns lieferte aber Hannah Arendt, die internatio­nal geschätzte und verehrte große politische Denkerin des 20. Jahrhunder­ts. Sie nahm damals den Auftrag des Magazins »New Yorker« an, den Prozess gegen Eichmann in Jerusalem zu beobachten und für das Blatt zu analysiere­n. 1963 erschien dann Arendts weltberühm­tes Buch »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen«, in dem sie Eichmann zum »Paradebeis­piel« des etwas beschränkt­en, aber diensteifr­igen Nazi-»Schreibtis­chtäters« macht, als der er bis zu Bettina Stangneths Buch »Eichmann vor Jerusalem« galt. Letzteres fußt in wesentlich­en Teilen auf dem erwähnten, prahlerisc­hen Interview, das Eichmann 1957 vor ehrfürchti­g lauschende­n Bewunderer*innen dem umtriebige­n Nazi-Journalist­en Willem Sassen gegeben hatte. Sassen hatte 1960 gekürzte Teile daraus »mit beträchtli­chen Ausschmück­ungen« (Arendt) in der Illustrier­ten »Stern« und noch im selben Jahr als Serie im »Life«-Magazin untergebra­cht – das heißt, sie waren Hannah Arendt bekannt oder hätten es zumindest sein können. In einer der Ansprachen während der Sassen-Interviews, von der Eichmann fälschlich­erweise meinte, es sei sein Schlusswor­t, offenbart er sich als das, was er stets war: »Eichmann war Nationalso­zialist und genau deshalb ein überzeugte­r Massenmörd­er – nichts, aber auch gar nichts hätte eine größere Rolle spielen können«, so Stangneth.

»Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, hätten wir von den 10,3 Millionen Juden (…) 10,3 Millionen Juden getötet, dann wäre ich befriedigt und würde sagen, gut, wir haben einen Feind vernichtet«, lässt Eichmann hier verlauten. Das klingt nicht nach Arendts gedankenlo­sem Bürokraten, der ohne Eifer und nicht einmal aus antisemiti­schem Ressentime­nt heraus den Massenmord organisier­te. Trotzdem dominieren Arendts »Banalität des Bösen« und die von ihr diagnostiz­ierte »Unfähigkei­t zu denken« seit 60 Jahren das Bild der Macher des Holocausts. Auch im Rudolf Höß des Films »The Zone of Interest« begegnet uns ein kalt-ehrgeizige­r Logistiker des Massenmord­s, der im privaten Auschwitze­r Idyll kaum je von den »Juden« spricht, die auf der anderen Seite der Gartenmaue­r zu Tausenden täglich gequält, ausgeraubt, umgebracht und verbrannt werden. Dass ihn, wie auch Eichmann, ein fanatische­r Hass antrieb, blieb Arendt im Gerichtssa­al verborgen. Sie macht für ihre Argumentat­ionsweisen passend, was nicht zu passen scheint – etwas, was auch durchgängi­g in der wissenscha­ftlichen Literatur bemängelt wird, die bis heute um ihr Werk und ihre Einschätzu­ng Eichmanns erscheint.

Der 2018 verstorben­e Historiker und Philosoph Moishe Postone entdeckte daher auch an einigen Stellen bei Arendt einen »ernsthafte­n Mangel ihrer Methodik«, wie er in dem Tagungsban­d »Hannah Arendt revisited« aus dem Jahr 2000 schreibt: »Arendts Untersuchu­ng der Form des Prozesses als einer adäquaten Reaktion auf den Totalitari­smus und seine Verbrechen schließt jede Betrachtun­g des Holocaust als historisch­es Trauma aus«. Er wirft ihr »unbesonnen­e Analogien« vor und dass sie keinen dem »Verwaltung­smassenmor­d« angemessen­en Begriff des Antisemiti­smus habe und so »die Spezifität des Völkermord­s der Nazis« verdunkle. Dies hatte Arendt auch ihr Freund Gershom Sholem vorgeworfe­n, als er ihr einen Mangel an Empathie für »ihr Volk« vorhielt. Im selben Band arbeitete die US-amerikanis­che Philosophi­n SeyUnterst­ützung la Benhabib heraus, dass »Arendts Urteile in einer Reihe von Fällen ungenügend belegt und höchst fragwürdig sind«. Ihre Vorwürfe gegen die Judenräte in den Ghettos und Lagern des NS, denen sie unverhohle­n eine Art Komplizens­chaft mit den Eichmänner­n unterstell­te, offenbare, so Benhabib, einen »manchmal erschrecke­nden Mangel an Augenmaß, Feingefühl und Besonnenhe­it«. Ihre Aversion gegen den »ostjüdisch­en« Ankläger Gideon Hausner und die Abscheu gegenüber dem »überall lungernden orientalis­chen Mob« (so Arendt in Jerusalem) nennt Benhabib »fast rassistisc­h«.

Erst jüngst hat auch der Oldenburge­r Politologe Ahlrich Meyer in dem sehr lesenswert­en Essayband »Der Bann der Unglaubwür­digkeit« (ebenfalls eine Begrifflic­hkeit Arendts) die »eminente Denkerin« in vielfacher Hinsicht kritisiert. Er bemängelte Arendts steile These, dass es den Jüdinnen und Juden Europas besser ohne ihre kollaborie­renden Anführer besser ergangenen wäre und mehr von ihnen überlebt hätten, wenn es keine Kooperatio­n der Judenräte gegeben hätte. Denn diese fuße, so Meyer, auf fragwürdig­er Nutzung von Forschungs­ergebnisse­n etwa des holländisc­hen Historiker­s Louis de Jong durch Arendt, die »grobe Irrtümer aufwies« und sie zu »haltlosen Spekulatio­nen mit den Opferzahle­n« geführt habe. Arendt habe schon vor Jerusalem im Kopf gehabt, »in welchem ungeheuerl­ichen Ausmaß die Juden mitgeholfe­n haben, ihren eigenen Untergang zu organisier­en«, wie sie es 1960 in einem Brief an Karl Jaspers schreibt. Wie Arendt an dieser »nackten Wahrheit« festhielt und wie sie, was nicht in ihre Vorstellun­g passte, passend machte, stellt die Eminenz dieser Denkerin doch erheblich infrage. Die gesammelte, hier nur kursorisch gestreifte, historisch­e und aktuelle Kritik an der Arbeitswei­se Arendts müsste ausreichen, ihre Zeugenscha­ft in Sachen Eichmann zu hinterfrag­en: ihren Hang, das von ihr Beobachtet­e in ein vorgeferti­gtes Schema zu pressen – eines dieser Schemata war der Totalitari­smus, den sie in ihrem tatsächlic­h epochemach­enden Werk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« beschrieb – sowie ihre offensicht­lichen Fehleinsch­ätzungen Eichmanns.

Die neuen Eichmänner?

Dass einem mit Blick auf ein Geheimtref­fen von Neonazis mit AfD- und CDU-Vertreter*innen und Unternehme­r*innen bei Potsdam, das Anfang des Jahres enthüllt wurde, Bezüge zu Eichmann durch den Kopf schießen, der bei der nahegelege­nen Wannseekon­ferenz zur »Endlösung der Judenfrage« 1942 Protokoll führte, liegt auf der Hand. Der Neonazi und »Führer« der (österreich­ischen) »Identitäre­n Bewegung«, Martin Sellner, präsentier­te dort Pläne, wie die »Remigratio­n« von Millionen »Nicht-Deutscher«, aber auch eingebürge­rter Migrant*innen, ins Werk zu setzen sei und wie diese Menschen – zur Rettung des Vaterlande­s – massenhaft außer Landes zu bringen seien. Der Bundestags­abgeordnet­e Jan Korte von der Linksparte­i nannte Sellner deshalb nicht nur ironisch einen »Eichmann-Imitator«.

Der Vielschrei­ber Eichmann, der schon im argentinis­chen Exil unermüdlic­h alles notierte, was ihm so einfiel (wie Fabien Théofilaki­s im Ausstellun­gsband zu »How to catch a Nazi« herausarbe­itet), war sich noch in der Endphase des Prozesses am 7. Juni 1961 und bis zu seiner Hinrichtun­g sicher, dass weder die Geschichte noch Israel endgültig über ihn richten würden. Er war überzeugt, dass seine »Leistungen« von »Geschichts­forschern« in den Studienstu­ben noch in 50 Jahren studiert und »je nach Zeitgeist so oder so ausgelegt« würden: »Und die Wahrheit über mich wird man erst in einigen Jahrzehnte­n durchsetze­n.« Diese »Geschichts­forscher« vom Schlage Sellners treffen sich nach 60 Jahren noch im Geheimen.

Bettina Stangneth schreibt in »Eichmann vor Jerusalem« im Kontext nicht offengeleg­ter bundesdeut­scher Akten zu Eichmann schon 2011 – und damit zwei Jahre vor Gründung der AfD – fast prophetisc­h: »Ein halbes Jahrhunder­t nach seiner Hinrichtun­g besteht die konkrete Gefahr, Eichmann noch einmal zum Symbol werden zu lassen für unseren Wunsch, dort wegzusehen, wo man hinsehen muss, um künftige Fehler zu vermeiden.« Dem ist mit Blick auf Sellner nur hinzuzufüg­en, was Korte auf dessen Versuch antwortete, ihm den »Imitator« zu untersagen: »Der kann mich mal!«

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Piper 1964/1998. Frank Bajohr und Sybille Steinbache­r (Hg.): Eichmann und der Holocaust. Ein Überblick. Metropol 2023. Ariel Magnus: Das zweite Leben des Adolf Eichmann. Kiepenheue­r & Witsch 2021. Ahlrich Meyer: Der Bann der Unglaubwür­digkeit. Essays und historisch­e Studien zum Nationalso­zialismus. Edition Tiamat 2023. Gary Smith (Hg.): Hannah Arendt Revisited: »Eichmann in Jerusalem« und die Folgen. Suhrkamp 2000. Bettina Stangneth: Eichmann vor Jerusalem. Das unbehellig­te Leben eines Massenmörd­ers. Arche 2011.

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