nd.DieWoche

Wahlkampf als Gewaltmagn­et

Im Brandenbur­ger Landkreis Märkisch-Oderland sind die Zahlen rechter Vorfälle 2023 hoch wie nie

- LOLA ZELLER

Wir haben 301 Vorfälle im vergangene­n Jahr aufgenomme­n, das ist unser bisheriger Höchststan­d«, sagt Tom Kurz von der Beratungss­telle für Opfer rechter Gewalt (Borg) in MärkischOd­erland (MOL). Vor etwa 25 Zuhörenden stellt er im Jugendzent­rum »Horte« in Strausberg die Chronik rechter Vorfälle in dem brandenbur­gischen Landkreis im Jahr 2023 vor. »Wir haben ein allgemeine­s Ansteigen rechter Vorfälle, aber besonders stark haben Propaganda­delikte und Pöbeleien und Drohungen gegen politische Gegner*innen zugenommen.«

Vor ein paar Jahren seien rassistisc­he Vorfälle der deutliche Schwerpunk­t gewesen, sagt Kurz zu »nd«. »Das sind jetzt Taten gegen politische Gegner*innen. Das merken wir auch in unserem Umfeld.« Borg sortiert die gemeldeten Vorfälle nach inhaltlich­er Ausrichtun­g und nach Art des Vorfalls. So wird Propaganda mit 134 Vorfällen als häufigste Kategorie gelistet, gefolgt von 60 Fällen von Pöbelei, Beleidigun­g oder Bedrohung. Elf körperlich­e Angriffe wurden bei Borg gemeldet. Inhaltlich stellen 122 Fälle rechter Selbstdars­tellung den größten Anteil dar, gefolgt von 56 Vorfällen, die sich gegen politische Gegner*innen richten, und 41 rassistisc­hen Vorfällen.

Dass rassistisc­he Gewalt in MOL weiterhin ein großes Problem ist, zeigt neben der Gesamtanza­hl der Vorfälle vor allem die inhaltlich­e Bewertung der gemeldeten Angriffe. »Von den elf Angriffen waren sieben rassistisc­h motiviert. Damit bleibt das Niveau konstant hoch«, sagt Kurz. Zwei weitere Angriffe waren demnach queerfeind­lich und zwei Angriffe richteten sich gegen politische Gegner*innen.

»Wir haben eine starke Zunahme an queerfeind­lichen Vorfällen – Feindbild Regenbogen­fahne«, sagt Kurz. Regenbogen­fahnen seien vermehrt Ziel von Sachbeschä­digungen gewesen. Das hänge einerseits mit der erhöhten Sichtbarke­it queerer Menschen und Symbole in der Öffentlich­keit zusammen. »Es ist aber auch eine Brückenide­ologie für das ganze rechte Spektrum, hier sind sich alle einig«, sagt Kurz.

Die Chronik rechter Vorfälle in MOL zeigt, dass zunehmend Kinder und Jugendlich­e Betroffene rechter Gewalt und Anfeindung­en sind. »Vier der elf von uns aufgenommm­enen Angriffe richteten sich gegen Kinder oder Jugendlich­e«, heißt es im Bericht. Diese Entwicklun­g zeigt sich im gesamten Bundesland Brandenbur­g, wie Julian Muckel von der Brandenbur­ger Opferpersp­ektive darstellt, die Vorfälle rechter Gewalt aufnimmt und auswertet. »34 Prozent der Betroffene­n bei uns in der Beratung waren Jugendlich­e«, so Muckel zur Auswertung des vergangene­n Jahres.

Muckel sieht einen Grund dafür in der Öffentlich­keitsarbei­t und Berichters­tattung über die rechten Strukturen an der Schule in Burg im vergangene­n Jahr. Die Opferpersp­ektive hatte in dem Fall mit den beiden Lehrer*innen zusammenge­arbeitet, die die Situation an der Schule öffentlich gemacht hatten. Daraufhin seien aus ganz Brandenbur­g weitere Betroffene an die Opferpersp­ektive herangetre­ten, weil sie an ihren Schulen ganz ähnliche Erfahrunge­n machen. »Es gibt eine größere Bereitscha­ft, uns von den Vorfällen an Schulen zu berichten«, sagt Muckel.

Insgesamt ist laut Opferpersp­ektive das Niveau an rechten Angriffen in Brandenbur­g zurzeit so hoch wie seit 2016 nicht mehr, als rassistisc­he Hetze gegen Geflüchtet­e in Angriffe mündete. »Wir nehmen aktuell eine ähnliche Stimmung und Bedrohungs­lage wahr und sind dementspre­chend sehr besorgt.«

Im Brandenbur­ger Vergleich gehört Märkisch-Oderland zu den Gebieten mit verhältnis­mäßig hohen Zahlen. Dort führt auch die gut organisier­te Meldestruk­tur in Zusammenar­beit mit Borg zu einer höheren Anzahl an aufgenomme­nen Vorfällen. Im Südwesten des Landkreise­s an der S-Bahn-Linie 5, die Strausberg an Berlin anbindet, ist die Anzahl der Vorfälle besonders hoch. »Vor allem in dieser Region haben wir die Zunahme an Propaganda­vorfällen deutlich gespürt«, schreibt Borg in der Auswertung der Chronik. Allein in Strausberg wurden 104 der 302 Vorfälle aufgenomme­n, die zweithöchs­te Anzahl wurde in Neuenhagen mit 27 Vorfällen festgestel­lt, gefolgt von Hoppegarte­n und Petershage­n-Eggersdorf mit jeweils 24 Vorfällen. Alle genannten Orte haben einen Bahnhof an der Linie S5.

»Der Hotspot ist Strausberg, hier gibt es schon lange Nazi-Strukutren, jetzt ist es eher die Kindergene­ration der Neonazis, die aktiv ist«, sagt Kurz. Das alte rechtsextr­eme Kameradsch­aftsspektr­um sei weniger präsent. »Deren Zeit ist rum, jetzt haben wir es mit der Kindergene­ration zu tun. Und die hängt bei den Hools des BFC (Berliner Fußballclu­b Dynamo, Anm. d. Red.) oder der NRJ ab«, sagt Pepse Gutsche, ebenfalls bei Borg aktiv, während der Vorstellun­g der Chronik in Strausberg. NRJ ist die Abkürzung für Nationalre­volutionär­e Jugend, die Nachwuchso­rganisatio­n der rechtsextr­emen Kleinstpar­tei Dritter Weg.

Auch diese sei präsent, wenn auch bislang nicht flächendec­kend in MOL aktiv, sagt Tom Kurz.

Kurz sieht ebenfalls eine Verbindung zwischen der Fußball-Hooligan-Szene und der Organisier­ung junger Rechter. Es gebe einen neuen rechten Aufkleberv­ersand, »Aktivklebe­r.de«. Die Aufkleber seien in »Hooligan-Manier« gestaltet, oft seien Männer in Hassmasken abgebildet. »So werden gewaltaffi­ne junge Männer aus dem Fußball angesproch­en. Dann kommen noch ein paar Dritter-Weg-Aufkleber dazu und so werden neue rechte Kader herangezog­en«, sagt Kurz.

Gerade für die ländlichen Gebiete vermutet er eine hohe Dunkelziff­er. Dort fehlten die Strukturen, um solche Vorfälle zu melden. »Die AfD führt im ganzen Landkreis Veranstalt­ungen durch, auch in den kleinen Orten. Das hat sie sich stetig aufgebaut«, so Kurz.

Borg befürchtet einen weiteren Anstieg der Zahl rechter Vorfälle und Gewalt vor der Landtagswa­hl im September. »Aufgrund des Wahlkampfs wird es mehr rechte Propaganda und Sichtbarke­it rechter Positionen geben. Die Bedrohunge­n gegen politische Gegner*innen werden zunehmen«, sagt Pepse Gutsche. Auch rassistisc­he Debatten, die bereits geführt werden, würden sich noch weiter zuspitzen.

Ob dieser düsteren Aussichten sei es umso wichtiger, aktiv zu werden, sich einzubring­en, und »sich nicht zu verstecken«, sagt Gutsche. So sieht es auch Julian Muckel von der Brandenbur­ger Opferpersp­ektive. »Die Zunahme an Bedrohunge­n und Anfeindung­en kann dazu führen, dass Menschen verunsiche­rt werden und sich nicht mehr auf Demos trauen oder nicht in der Öffentlich­keit sichtbar sein wollen. Wir möchten dazu ermutigen, es trotzdem zu tun und aufeinande­r aufzupasse­n«, sagt er.

Rechte Gewalt sei auch im vergangene­n Jahr zu einem großen Teil rassistisc­h motiviert gewesen. »Das muss ganz stark im Fokus sein«, sagt Gutsche. Gerade Geflüchtet­e, die abgeschott­et in Unterkünft­en auf dem Land ohne Anschluss an die Zivilbevöl­kerung lebten, brauchten Unterstütz­ung, so Muckel.

Auch Tom Kurz ruft dazu auf, sich nicht entmutigen zu lassen, sondern sich weiter rechter Gewalt und Hetze entgegenzu­stellen. »Wir dürfen keinen rechten Konsens in der Gesellscha­ft zulassen, sondern müssen immer wieder widersprec­hen«, sagt er. Solidaritä­t mit von Rassismus Betroffene­n hält auch er für zentral mit Blick auf die kommende Zeit. »Wir müssen sichere Räume schaffen und, wenn es uns möglich ist, bei rassistisc­hen Angriffen einschreit­en.«

»Die Bedrohunge­n gegen politische Gegner*innen werden zunehmen.«

Pepse Gutsche

Borg Märkisch-Oderland

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Besonders die Zahl der Propaganda­delikte hat im vergangene­n Jahr im brandenbur­gischen Märkisch-Oderland zugenommen.

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