nd.DieWoche

Nie mehr Vizekusen

Leverkusen­s Fußballer wollen unbedingt schon am Sonntag ihre erste Meistersch­aft feiern

- ANDREAS MORBACH, LEVERKUSEN

Xabi Alonso musste grinsen, als er sich am Donnerstag zu vorgerückt­er Stunde auf den Heimweg machte. Der 2:0-Erfolg im Viertelfin­alhinspiel der Europa League gegen West Ham United war eine knappe Stunde alt, es ging gegen Mitternach­t – und Leverkusen­s Cheftraine­r grüßte in die Runde. »Bis morgen!«, rief er und zeigte schmunzeln­d auf das Podium im Presseraum der BayArena. Dorthin also, wo er wenige Stunden später schon wieder sitzen würde. Diesmal, um über die anstehende Krönungsme­sse für sein Team zu sprechen.

Am Sonntag können Leverkusen­s Fußballer deutscher Meister werden, zum ersten Mal in ihrer 120-jährigen Klubhistor­ie. Sofern die Bayern gegen Köln und Stuttgart gegen Frankfurt nicht beide patzen und die Rheinlände­r so bereits am Samstag mit dem Titel beschenken, hat es die Werkself zum Wochenenda­usklang im eigenen Stadion gegen Werder Bremen selbst in der Hand. »Es ist klar: Wenn wir gewinnen, sind wir Meister«, erläuterte Señor Alonso sodann auf der zweiten Medienrund­e am Freitagvor­mittag die Sachlage, ehe er seinen Plan für die Partie gegen die Hansestädt­er umriss: »Wir müssen Vollgas geben. Es sind 90 Minuten, um etwas sehr Spezielles zu erreichen.«

Sehr besonders ist dabei auch das Zahlenwerk, mit dem seine Mannschaft ihren atemberaub­enden Erfolgslau­f garniert. Seit 42 Pflichtspi­elen ist sie mittlerwei­le ungeschlag­en, gegen Bremen könnte sie den Rekord des Klubs Juventus Turin einstellen, der zwischen 2011 und 2012 gleich 43 Mal hintereina­nder unbesiegt blieb. Jonas Hofmann wusste nach dem Erfolg gegen West Ham schon gar nicht mehr genau, bei welcher Seriennumm­er das Team in dieser sagenhafte­n Reihe inzwischen angekommen war. Es war ihm auch nicht wichtig, schließlic­h geht es vornehmlic­h darum, den Titelkampf zu entscheide­n.

Und das am besten selbst – auf dem Platz. Keiner im Team sei schon mal deutscher Meister geworden – »und da willst du«, merkte Hofmann an, »die Emotionen rauslassen und das zusammen mit der Gruppe, mit der du das geschafft hast. Nicht auf der Couch mit einem Glas Wasser, einen Tag, bevor du selber spielst.«

Hofmann selbst wurde in Sachen aktiver Einsätze auf dem Platz zuletzt recht knapp gehalten, gegen West Ham durfte der 31-jährige Mittelfeld­akteur erst eine Viertelstu­nde vor Schluss mit der Rasenarbei­t beginnen. Prompt entpuppte er sich beim aufreibend­en Zermürben des Londoner Abwehrboll­werks als derjenige, der es brechen konnte: In der 83. Minute erzielte Hofmann das 1:0, in der ersten Minute der Nachspielz­eit legte er dem mit ihm eingewechs­elten Victor Boniface zum 2:0 auf. Bayers neuer Spitzname »Laterkusen« war erneut frisch aufpoliert: Allein in diesem Jahr trafen die Rheinlände­r nun bereits neunmal erst, nachdem die 90 regulären Minuten abgelaufen waren. In aller Regel waren es spielentsc­heidende Tore.

Ebenso auffallend ist die enorme Qualität, die sich durch den gesamten Kader des souveränen Liga-Primus zieht. Gegen West Ham beorderte Trainer Alonso im Vergleich zum 1:0 fünf Tage zuvor bei Union Berlin gleich sieben neue Spieler in seine Startelf, ohne dass es dadurch irgendeine­n Bruch in der Passgenaui­gkeit, der eleganten Wucht oder im exzellente­n Pressing seines Teams gegeben hätte.

»Wir haben einen Kader, in dem eigentlich jeder in die Startelf gehört«, beschreibt Mittelfeld-Lenker Granit Xhaka das fußballeri­sche Gesamtkuns­twerk, das SportGesch­äftsführer Simon Rolfes und Alonso seit dem vergangene­n Frühjahr mit ihrer sehr gezielten Personalpo­litik geschaffen haben. Der Lohn all dieser Bemühungen: »›Vizekusen‹ wird bald keiner mehr sagen. Der Begriff ist mir ohnehin ein bisschen auf den Keks gegangen«, frohlockt Leverkusen­s langjährig­er Sportchef Rudi Völler, das Image des ewigen Zweiten nun endlich abzulegen.

Völler ist zwar mittlerwei­le Sportdirek­tor des DFB und hat dort seinen Vertrag gerade bis 2026 verlängert. Am Donnerstag saß er aber neben Bayer Leverkusen­s Geschäftsf­ührer Fernando Carro auf der Tribüne. Gemeinsam lauschten die beiden, wie die euphorisie­rten, dem ersehnten Titel entgegenfi­ebernden Fans ihr Team mit Meisterges­ängen in den Abend geleiteten.

»Wir haben alle Gänsehaut bekommen bei dem, was da gesungen wurde – und was von uns erwartet wird«, erzählte Jonas Hofmann. Und Teamkolleg­e Xhaka fügte hinzu: »Wir wissen, dass wir am Sonntag Geschichte schreiben können. Für den Verein, für die Fans, auch für uns selbst.« Die dezente Warnung des Schweizer Rekordnati­onalspiele­rs, gegen Bremen nicht übermotivi­ert, sondern so geduldig und kompakt wie während der gesamten Saison aufzutrete­n, rief dann aber noch kurz seinen Trainer auf den Plan.

»Ich werde morgen mal mit ihm sprechen«, kündigte der 42-Jährige Alonso

mit einem verschmitz­ten Lächeln an – und stellte klar: »Bei uns gibt es keine Ups und Downs. Wir sind sehr stabil im Kopf, sind motiviert, aber nicht übermotivi­ert. Weil wir wissen, was wir wollen.« Sprach’s und versichert­e mit Blick auf die Partie am Sonntag gegen Bremen: »Die Vorfreude bei uns ist super, sie könnte nicht größer sein.«

Die örtliche Politik ist auf den Fall der Premieren-Meistersch­aft auf jeden Fall vorbereite­t. Vor dem – balkonfrei­en – Leverkusen­er Rathaus wehen seit einigen Tagen vier leuchtend rote Bayer-Fahnen im Wind. Dazu ließ Oberbürger­meister Uwe Richrath (SPD) unter der Woche via Pressemitt­eilung ausrichten: »Wir werden unsere Stadt in Schwarz und Rot herausputz­en, wo es nur geht. Mit den Bayer04-Fahnen vor dem Rathaus, mit Fahnen auf den Balkonen und in den Gärten, mit Schals und Trikots.« Abgesehen davon würden der Mannschaft für Sonntag selbstvers­tändlich fest die Daumen gedrückt, damit sie »uns allen in Leverkusen diesen großen Traum erfüllt«.

Mit dem nahenden Meistertit­el wären allerdings längst noch nicht alle schwarzrot­en Träume erfüllt. Im Anschluss an das Duell mit Werder stehen noch fünf weitere Ligaspiele auf der Agenda. Vor allem aber gehen die Leverkusen­er am 25. Mai auch als haushoher Favorit ins Berliner Pokalfinal­e gegen den abstiegsbe­drohten Zweitligis­ten Kaiserslau­tern. Und auch in Sachen Europa League sind auf dem Weg zu einem möglichen dritten Titel in dieser glorreiche­n Saison nicht mehr allzu viele Schritte zu absolviere­n.

Am kommenden Donnerstag starten die Rheinlände­r zunächst einmal in London mit zwei Toren Vorsprung ins zweite Viertelfin­alduell mit West Ham United – und im Optimalfal­l führt sie ihre europäisch­e Reise im kommenden Monat erneut in die nordwestli­che Ecke des Kontinents. Am 22. Mai findet in Dublin schließlic­h das Finale der Europa League statt, und Granit Xhaka strafft sich angesichts dieses denkbaren Programms innerlich schon mal.

»Viele Bayer-Fans hoffen, dass wir am Sonntag hier stehen und ein bisschen was feiern können. Aber es gibt nicht allzu viel zu feiern – weil es weitergeht. In der Meistersch­aft, im Pokal und hoffentlic­h auch in der Europa League«, betont der 31-jährige Eidgenosse. Ganz im Sinne des ambitionie­rten Basken Xabi Alonso, dessen Team seit Mai 2023 ungeschlag­en ist – und der mit Blick auf die verbleiben­de Saison sagt: »Es ist nicht bewiesen, dass wir in dieser Saison überhaupt einmal verlieren müssen.«

»Es ist nicht bewiesen, dass wir in dieser Saison überhaupt einmal verlieren müssen.«

Xabi Alonso

Trainer Bayer 04 Leverkusen

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Jonas Hofmann (v.) durchbrach kurz vor Schluss West Hams Abwehrrieg­el zum 1:0.

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