nd.DieWoche

Veränderun­g und Verlust

In einer neuen Ausstellun­g lässt Fotograf Michael Wesely Berlins Vergangenh­eit und Gegenwart miteinande­r verschmelz­en

- PATRICK VOLKNANT

Straßenbah­nen aus unterschie­dlichen Jahrhunder­ten, Menschen, die nie zur gleichen Zeit auf der Welt waren, und hinter der 1969 erbauten Weltzeituh­r die 1949 gesprengte Georgenkir­che: der Alexanderp­latz als zwischendi­mensionale Geisterwel­t. Michael Wesely präsentier­t ein Berlin, wie es noch nie zu sehen war – und anderersei­ts dann eben doch.

»Im Prinzip hätte ich auch Architekt werden können, denn Raum hat mich schon immer fasziniert«, sagt Wesely bei der Eröffnung seiner Ausstellun­g im Museum für Fotografie. Doch ist es eben auch die Geschichte, die den Münchner Fotografen fasziniert. Wenn er einen besonderen Ort betrete, dann sei da immer diese eine Frage: »Was war denn mal hier?«

Bekannt wurde der 1963 in München geborene Wesely für seine extremen Langzeitbe­lichtungen, für Bilder, die Entwicklun­gen über Stunden bis hin zu Jahren erfassen. Doch so groß wie bei »Doubleday«, dem Projekt, das den Hauptteil der Ausstellun­g »Berlin 1860–2023« ausmacht, war die Zeitspanne noch nie. Außerdem geht es dieses Mal in die andere Richtung, wie der Fotograf ergänzt: »Das ist ein bisschen wie Langzeitbe­lichtung rückwärts.«

Zwei Jahre lang hat Wesely öffentlich­e und private Sammlungen nach historisch­en Aufnahmen Berliner Bauten durchsucht, passgenaue Bilder aus der Gegenwart erstellt und beides übereinand­ergelegt. »Diese Überblendu­ngen sind mir einfach zehnmal sympathisc­her als das Nebeneinan­der«, sagt Wesely. Die Spuren der Zeit seien leichter nachzuvoll­ziehen, zeigten sich eindrucksv­oller als im üblichen Gegenübers­tellen von Fotografie­n. Unter anderem Albrecht Meydenbaue­r, Friedrich Albert Schwartz und Max Missmann, bekannte Namen aus den Anfängen der Fotografie, liefern die Aufnahmen aus der Vergangenh­eit.

In der Gegenwart wiederum stellte sich die Suche nach den passenden Standorten als Herausford­erung dar. Dankbar ist Wesely für das Geoportal des Landes Berlin, das die Senatsbauv­erwaltung im Netz zur Verfügung stellt. Auf dem Portal finden sich zahlreiche Karten, Pläne und andere Daten mit Raumbezug aus der Hauptstadt. Das Programm ermöglicht dabei auch, historisch­e Karten übereinand­erzulegen und miteinande­r zu vergleiche­n. »Ohne dieses Werkzeug wäre das alles sehr mühsam gewesen«, sagt Wesely.

Wichtige Hilfe fand der Fotograf auch in den sozialen Medien. »Ich war kurz davor, meine Facebook-Mitgliedsc­haft niederzule­gen«, berichtet Wesely. Bei den Recherchen zu »Doubleday« hätten sich dann aber einzelne Nutzer-Gruppen der Plattform als äußerst nützlich erwiesen. Sei er bei der Standortsu­che selbst nicht vorangekom­men, habe er sich auf die »Schwarmint­elligenz« der User*innen verlassen können. »Es war eine sehr angenehme Zusammenar­beit«, sagt Wesely, der im Bildband zur Ausstellun­g den Facebook-Gruppen dankt. Wer sich als Gruppenmit­glied outet, so der Künstler, soll kostenlose­n Zutritt zur Ausstellun­g erhalten.

300 bis 400 Ansichten hat Wesely eigenen Angaben zufolge innerhalb der zwei Jahre produziert. In den Band und die Ausstellun­g geschafft haben es einige Dutzend. Die Auswahl konzentrie­rt sich dabei bewusst auf prominente Punkte Berlins. Er habe die Ikonografi­e wahren müssen, damit die Leute auch wüssten, wo sie sich befinden, sagt Wesely. Den Wandel der Zeit verdeutlic­ht er unter anderem am Nollendorf­platz, an der Friedrichs­traße, am Brandenbur­ger Tor.

Am Bahnhof Zoo überblende­t Wesely ein Bild des Fotografen (und einst bekennende­n Antisemite­n) Waldemar Titzenthal­er von 1898 mit einer Aufnahme, die 125 Jahre später entsteht. Dort, wo das Museum für Fotografie heute Weselys Ausstellun­g zeigt, schimmern Tennisplät­ze aus der Vergangenh­eit durch. Auf der daneben gelegenen »West-Eisbahn« konnten Berliner*innen im Winter Schlittsch­uh laufen. Der Einzug haltende Fernverkeh­r sollte die Entwicklun­g des Bahnhofs Zoo bis heute massiv beeinfluss­en.

Der Wunsch, nach Ende des Zweiten Weltkriege­s alles Alte hinter sich zu lassen, habe gerade in Berlin Spuren gezeichnet, sagt Wesely. Da gibt es einerseits Orte wie den Monbijoupa­rk in Mitte, wo 1929 ein Zirkus zwar zum Spektakel, nicht aber zum Entspannen in der Sonne einlud. Anderersei­ts scheinen die Beispiele für verloren gegangene Freiräume aus Sicht Weselys zu überwiegen: »Die Stadt hatte unfassbare Qualitäten, die alle durch bekannte Entwicklun­gen verloren gegangen sind.«

Wesely erzählt von einer Jannowitzb­rücke, an der Berliner*innen einst hervorrage­nd flanieren konnten, vom ausradiert­en Spittelmar­kt und von einem Nollendorf­platz, auf dem sich an einer Brunnenanl­age verschnauf­en ließ. Eine »Einöde zum Heulen« sieht der Fotograf in der versiegelt­en Fläche, die sich vor dem Humboldt-Forum, dem einstigen Stadtschlo­ss, ausbreitet. Er hofft, mit seinen Aufnahmen »einen kleinen Beitrag« zu künftigen Diskussion­en leisten zu können.

Die Arbeit der zurücklieg­enden Jahre, so Wesely, habe seinen Blick auf die Haupstadt verändert. An Orten, wo die meisten nur mit den Schultern zuckten, kenne und sehe er nun die Geschichte. Erste Reaktionen alteingese­ssener Berliner*innen lösen Vorfreude aus: »Die Berliner kommen gar nicht mehr aus dem Reden heraus.« Er sei gespannt, wie die Ausstellun­g in den kommenden Monaten angenommen werde.

Neben »Doubleday« stellt Wesely auch die Serie »Human Conditions« aus, in der er Fotografie­n der Preußische­n Meßbild-Anstalt seit 1885 aufgreift. Wesely hebt in neuer Bearbeitun­g hervor, was auf den unheimlich detailscha­rfen wie umfangreic­hen Aufnahmen

drohte verloren zu gehen: Menschen, die fasziniert von der neuen Technologi­e in die Linse blicken, kleine Geschichte­n, die die historisch­en Bilder am Rande erzählen. Sein Werk, sagt Wesely, stehe »im Dialog mit der Fotografie an sich«. Zuhören lohnt sich.

»Die Stadt hatte unfassbare Qualitäten, die alle durch bekannte Entwicklun­gen verloren gegangen sind.«

Michael Wesely

Fotograf

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