Späte Nobel-Ehre für den Arabischen Frühling
Das norwegische Preiskomitee holt eine längst fällige Auszeichnung nach. Tunesien ist auf dem Weg zur Demokratie. Es kann die Unterstützung gut gebrauchen
Wenn es darum geht, Veränderungen historischen Ausmaßes zu würdigen, tun sich die fünf Persönlichkeiten, die im Auftrag des norwegischen Parlaments den letzten Willen Alfred Nobels erfüllen, oft schwer. Für die größte globale Wende zum Guten, die es in den vergangenen Jahrzehnten gab, also für die Beendigung des Kalten Krieges, den Fall des Eisernen Vorhangs und die dadurch ermöglichte deutsche Wiedervereinigung hat nur ein Politiker den Friedensnobelpreis erhalten: Michail Gorbatschow im Jahr 1990. Andere, die es ebenso verdient gehabt hätten – die mutigen Teilnehmer der Montagsdemonstrationen in der DDR und der westdeutsche Kanzler Helmut Kohl –, gingen leer aus.
Jetzt hat das Osloer Nobelpreiskomitee die wohl letzte Chance ge- nutzt, den bisher mit keinem Preis bedachten Arabischen Frühling zu würdigen. Das Aufbegehren vorwiegend junger Menschen, das im Dezember 2010 in Tunesien seinen Anfang nahm, hat in mehreren Ländern Diktatoren hinweggefegt. Doch während Ägypten inzwischen wieder in eine Militärherrschaft zurückverwandelt wurde, während in Libyen pure Anarchie herrscht und in Syrien ebenso wie im Jemen ein blutiger Bürgerkrieg tobt, konnte in Tunesien das zarte Pflänzchen der Demokratie zu einem kleinen Baum heranwachsen.
Mit dem Friedensnobelpreis 2015 wurden jetzt sozusagen die Gärtner geehrt, die das Pflänzchen gehegt und gepflegt haben: Vertreter der Zivilgesellschaft, die auf die politischen Parteien mäßigend einwirkten und sie zur Zusammenarbeit bewegten. Der Erfolg ist nicht zu übersehen: Tunesien besitzt heute eine demokratische Verfassung und seine Regierung stützt sich auf ein breites Bündnis, das von den bürgerlichen Parteien bis zu den gemäßigten Islamisten reicht.
Hat das tunesische „DialogQuartett“den Preis verdient? Ohne jeden Zweifel – so überraschend die Auszeichnung auch für eine Gruppierung kam, die im Hintergrund wirkt und außerhalb Tunesiens kaum bekannt ist. Man spürt die Schwierigkeit der Juroren, preiswürdige Personen zu finden. Eigentlich hätten sie eine Massenbewegung auszeichnen müs- sen. Oder deren Urheber, den jungen Tunesier Mohammed Bouazizi, der sich in der Stadt Sidi Bouzid aus Protest gegen das Willkürregime des Diktators Ben Ali selbst verbrannte. Doch der Zeitpunkt wurde verpasst – und ein Toter kann den Preis nicht erhalten.
Das Nobelkomitee verbindet mit der Verleihung oft auch eine politische Absicht. Diesmal soll die demokratische Entwicklung in Tunesien gestärkt werden. Das ist dringend nötig, denn das Land befindet sich weiter in einer wirtschaftlichen Notlage mit hoher Arbeitslosigkeit. Zudem wird es von militanten Islamisten angegriffen. Sie haben demokratische Politiker ermordet und mit verheerenden Anschlägen auf Touristen versucht, eine der wichtigsten Geldquellen des Landes zum Versiegen zu bringen. Es ist keine Frage, dass Tunesien die Rückendeckung des Nobelkomitees sehr gut brauchen kann.
Indes ist in den vergangenen Jahren die Kalkulation aus Oslo nicht immer aufgegangen. So hat der Friedensnobelpreis 2009 für Barack Obama aus dem US-Präsidenten keinen Friedensfürsten gemacht. Er holte zwar US-Soldaten aus dem Irak und Afghanistan zurück in die Heimat, führt aber andererseits bis heute einen moralisch höchst bedenklichen Drohnenkrieg, dem auch viele Zivilisten zum Opfer fallen. So gesehen kann Angela Merkel froh sein, dass sie in diesem Jahr nicht zur Laureatin auserkoren wurde. Sie wäre sonst auf die immerwährende Rolle der Flüchtlingsmutter festgelegt worden.
Angela Merkel muss nicht traurig sein