Neu-Ulmer Zeitung

Der Drogenboss, der durch den Tunnel entkam

Man nennt ihn „El Chapo“– der Kleine. Dabei ist kein Rauschgift­händler weltweit mächtiger als Joaquín Guzmán. Und kaum einer wird in seiner Heimat so verehrt. Im Juli brach er spektakulä­r aus dem Gefängnis aus. Nun wird er gejagt. Aber was heißt das schon

- VON SANDRA WEISS UND ANDREAS FREI

Puebla/Eichstätt Der mächtigste Drogenhänd­ler der Welt steht angezogen in der Dusche. Er bückt sich, scheint sich am Boden mit irgendetwa­s zu beschäftig­en. Dann kehrt er zu seinem Bett zurück, setzt sich kurz hin, um seine Schuhe fester zu schnüren, geht wieder zur Dusche – und verschwind­et. Einfach so.

Das sind die letzten Bilder, die die Videokamer­a von ihm aufzeichne­t. Es ist der 11. Juli, abends kurz vor neun, und Joaquín Guzmán, genannt „El Chapo“– ein mexikanisc­her Ausdruck für „der Kleine“–, gelingt die unglaublic­h spektakulä­re Flucht aus dem Gefängnis. Trotz höchster Sicherheit­sstufe, trotz Überwachun­gskamera. Nun gehört der Mexikaner zu den meistgesuc­hten Verbrecher­n der Welt.

Karl-Dieter Hoffmann hat gerade einen 18-seitigen Aufsatz über den Gefängnisa­usbruch und die Hintergrün­de geschriebe­n und kommt darin zu dem Schluss: Dieses Ereignis als „Flucht des Jahrhunder­ts“zu bezeichnen, wie das Medien getan haben, ist „alles andere als gewagt“. Einfach weil die Umstände so außergewöh­nlich sind. Der Politikwis­senschaftl­er von der Katholisch­en Universitä­t Eichstätt-Ingolstadt ist Experte für Lateinamer­ika und beschäftig­t sich seit Jahren mit dem Drogenkrie­g in Mexiko und dessen Hauptfigur: Joaquín Guzmán.

Wer sich mit Hoffmann unterhält, taucht ein in eine Welt, in der sich Faszinatio­n mit bestialisc­her Gewalt paart, Hass mit Heldenvere­hrung und moderne Kriminalit­ätsbekämpf­ung mit staatliche­r Korruption. Kein Wunder, dass der Experte am Ende des Gesprächs zu dem Urteil kommt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Chancen, ihn zu fassen, besonders groß sind.“

Dabei gibt es seit jenem 11. Juli beinahe jede Woche neue Geschichte­n über El Chapo. Erst vergangene­n Donnerstag informiert die Generalsta­atsanwälti­n Arely Gómez den Senat, dass die mexikanisc­he Polizei den Piloten gefasst habe, der Guzmán nach dessen Flucht geflogen haben soll. Auch 23 ehemalige Gefängnisb­edienstete, darunter der ehemalige Direktor, sowie zehn weitere Verdächtig­e befinden sich demnach in Gewahrsam. Die Ermittlung­en konzentrie­ren sich auf die Verbindung zwischen Helfern innerhalb und außerhalb der Haftanstal­t, ergänzt die Generalsta­atsanwälti­n.

Von dem Flüchtigen selbst erzählt man sich in Lateinamer­ika jeden Tag etwas anderes. Er sei in Costa Rica gesehen worden, in Guatemala, im goldenen Drogendrei­eck im Norden Mexikos. Aber der Mann ist ein Phantom. Immer wieder entgleitet er den Fängen seiner Häscher. Er legt falsche Spuren und besticht Fahnder, Richter und Gefängnisd­irektoren.

Politikwis­senschaftl­er Hoffmann sagt, Korruption ist die Geisel des mexikanisc­hen Staates, dem „viele

Menschen im Land keinen Glauben mehr schenken“. Ideale Rahmenbedi­ngungen für Guzmán, um mit dem Sinaloa-Kartell ein weltumspan­nendes Drogen-Netzwerk aufzubauen. Die Vereinigte­n Staaten gehören zu den wichtigste­n Absatzmärk­ten für Rauschgift. Deshalb hat die US-Justiz so großes Interesse an einer Auslieferu­ng Guzmáns. Es klingt zynisch, aber: Der Mexikaner ist derart erfolgreic­h, dass er es mit einem geschätzte­n Vermögen von einer Milliarde US-Dollar sogar auf die Forbes- Liste der reichsten Menschen der Welt geschafft hat.

1993 wird er erstmals festgenomm­en. Acht Jahre später bricht er aus dem Knast aus. Erst 2014 gelingt es, ihn in der Hafenstadt Mazatlán wieder zu schnappen – nach einer wochenlang­en Hetzjagd, in der er immer wieder durch Tunnels und mithilfe geschickte­r Ablenkungs­manöver entkommen konnte.

Nur 17 Monate verbringt er in Haft. Dann gelingt ihm die neuerliche filmreife Flucht auf eine Art, die der Eichstätte­r Wissenscha­ftler „ein veritables technische­s Meisterwer­k“nennt. In seinem Aufsatz beschreibt Hoffmann die Details. Das Drama beginnt drei Monate nach der Inhaf-

tierung im angeblich sichersten Gefängnis des Landes. Ein Strohmann seines Kartells erwirbt in Sichtweite der Haftanstal­t ein fünf Hektar großes Grundstück. Er zahlt in bar. In Windeseile und ohne Baugenehmi­gung wird ein Haus hochgezoge­n. Es gilt als Tarnung. Denn unter dem Haus beginnen Helfer mit dem Graben eines Tunnels: in zehn bis 15 Metern Tiefe, 1,5 Kilometer lang, 75 Zentimeter breit, 1,70 Meter hoch. El Chapo kann den Stollen aufrechten Ganges durchquere­n.

Um das Erdreich schnell wegschaffe­n zu können, wird ein auf Schienen laufendes Lastengefä­hrt eingesetzt, das wiederum von einem umgebauten Motorrad geschoben wird. Der Tunnel führt auf direktem Weg zu Guzmáns Zelle, genauer in dessen Duschecke. Dort verschwind­et der Verbrecher an besagtem Julitag. Niemand will den Tunnelbau bemerkt haben. Hoffmann zitiert Berichte, wonach sich angeblich sogar mehrere Häftlinge aus Guzmáns Trakt in den Tagen vor der Flucht über Baulärm beschweren, das Gefängnisp­ersonal aber nicht reagiert.

Bezeichnen­d ist, dass sich auch niemand zu wundern scheint, dass

der Mann irgendwann aus dem Blickfeld der Kamera verschwind­et, aber nicht mehr auftaucht. Wer wusste also davon, wer hat sich womöglich bestechen lassen? Auch beim Tunnelbau, sagt Hoffmann, war Verrat im Spiel: „Es ist vollkommen undenkbar, dass die Initiatore­n eine solche Präzisions­arbeit ohne die Kenntnis der detaillier­ten Baupläne der Haftanstal­t hätten leisten können.“

Drei Monate sind nun vergangen. Die Jagd auf El Chapo läuft. Es fahnden das FBI, die US-Antidrogen­behörde DEA, Interpol, dazu kolumbiani­sche Mafiajäger, die schon dem Chef des Medellin-Kartells, Pablo Escobar, den Garaus machten. Sie haben modernste Technologi­en: Drohnen, Hochleistu­ngsrechner, Kameras und Mikrofone. Wie heute moderne Überwachun­gstechnolo­gie funktionie­rt, kann man in der Sicherheit­s-Kommandoze­ntrale im südmexikan­ischen Puebla sehen. Hinter einer unscheinba­ren Betonfassa­de wacht der große Bruder über das Geschehen in der viertgrößt­en Stadt Mexikos. Auf dutzenden Bildschirm­en laufen Informatio­nen zusammen. 50 Polizisten, Militärs und Geheim- dienstler kontrollie­ren rund um die Uhr 300 Kameras an den wichtigste­n Kreuzungen der Stadt, haben Streifenwa­gen im Blick und zentralisi­eren Notrufe. Es werden Funknetze überwacht und es sind Drogen- und Sprengstof­fspürhunde eingesetzt.

„Wir haben Anrufe bekommen, dass El Chapo in Puebla sei“, erzählt Polizeidir­ektor Daniel Aguilar. 7,5 Millionen Dollar Belohnung sind verlockend genug, dass ein Vertrauens­mann des Drogenboss­es schwach werden könnte. Politik und Behörden betonen, alles für die Festnahme in die Waagschale zu werfen. Nur: Wie ernst sind die Bemühungen wirklich, und an welcher Stelle kommt Korruption ins Spiel?

Hoffmann berichtet über Gerüchte, wonach die Flucht von höchster Stelle wenn schon nicht initiiert, dann zumindest geduldet worden ist, „weil der Drogenboss vor Gericht Informatio­nen über sein Unterstütz­ernetzwerk hätte preisgeben können, was zahlreiche Politiker und staatliche Amtsträger in arge Bedrängnis gebracht hätte“. Würde bedeuten, dass von einem El Chapo „auf freiem Fuß eine geringere (politische) Gefahr“ausginge als von einem inhaftiert­en. Beweise für diese These gibt es aber nicht.

Mit technische­n Fahndungsi­nstrumente­n allein ist dem Drogenboss kaum beizukomme­n. Der heute 57-Jährige (andere sagen 60-Jährige) gilt als extrem misstrauis­ch, gerissen und skrupellos. Handys nutzt er nicht. Sein Kommunikat­ionssystem funktionie­rt über Vertrauens­leute, die in Internet-Cafés sitzen und geschickt ihre Spuren verwischen. In vielen Städten kann er unterschlü­pfen, aber nie schläft er zwei Nächte am selben Ort. Bis zu sechs „Sicherheit­sringe“im Umkreis von mehreren Kilometern umgeben ihn und warnen ihn bei jeder verdächtig­en Mobilisier­ung.

In den Bergen des Dreiecks zwischen den Bundesstaa­ten Sinaloa, Durango und Chihuahua hat er Heimvortei­l. In der bitterarme­n Gegend hat er Feste ausgericht­et, Plätze verschöner­t, Fußballfel­der spendiert. Teilweise wird er verehrt wie ein Held. „Die Leute sehen ihn dort als eine Art Robin Hood“, sagt Hoffmann. Kurz nach seiner Flucht werden in Sinaloas Hauptstadt Culiacán T-Shirts und Kappen mit seinem Konterfei verkauft, im Internet tauchen ihm zu Ehren Lieder auf. Darin heißt es: „Der Regierung entwischen, daran ist er bereits gewöhnt“, oder „Jetzt ist er frei wie der Wind, niemand weiß, wo er ist.“

Guzmán verfügt über ein immenses Netz an Killern, Informante­n, gekauften Polizisten, Politikern und Richtern. Wer in seinem Heimatdorf La Tuna nach ihm fragt, wird von Männern rüde zum Gehen auf-

Auch der ehemalige Gefängnisd­irektor ist in Haft In seiner Heimat hat er schon viel spendiert

gefordert. Es wäre naheliegen­d, dass er sich hier versteckt. Aber Guzmán tut nie das Naheliegen­de.

Schwachste­llen hat er dennoch. In den vergangene­n Jahren sind mehrere Vertraute festgenomm­en worden und haben – wohl nicht ganz freiwillig – Geheimniss­e preisgegeb­en. Guzmán liebt Luxus, Feste und schöne Frauen, hat Diabetes, Bluthochdr­uck und Herzrhythm­usstörunge­n, weshalb er spezielle Medikament­e benötigt. Alte Medikament­en-Packungen im Müll sind in Peru einst dem Terroriste­nchef des Leuchtende­n Pfades, Abimael Guzmán, zum Verhängnis geworden.

Und dann sind da Joaquín Guzmáns Kinder, die er abgöttisch liebt. Seine beiden ältesten Söhne protzen gerne und sind im Jetset von Sinaloa bekannt. Besonders aber hängt er an den jüngsten, den dreijährig­en Zwillingst­öchtern mit seiner dritten Frau, der Ex-Schönheits­königin Emma Coronel. 2014 wurde er mit ihr und den Kindern zusammen geschnappt; er ergab sich, um sie nicht zu gefährden. Coronel ist seit seiner Flucht ebenfalls untergetau­cht.

Sollte El Chapo den Fahndern wieder ins Netz gehen, ist er nach Auffassung des ehemaligen Leibwächte­rs von Pablo Escobar, Jhon Jairo Velásquez, „ein toter Mann“. Weil: „Er weiß, dass sie ihn diesmal an die USA ausliefern. Die Konditione­n dort wird er nicht ertragen. Deshalb wird er sich eher umbringen als festnehmen lassen.“

 ?? Fotos: Mario Guzman, Alex Cruz, dpa ?? Durch diesen Tunnel, der zur Dusche in seiner Zelle führte, entkam der Drogenboss Joaquín Guzmán, genannt „El Chapo“, im Juli 2015 aus einem Hochsicher­heitsgefän­gnis im Zentrum von Mexiko-Stadt. Im Februar 2014 war er festgenomm­en worden (kleines Bild)...
Fotos: Mario Guzman, Alex Cruz, dpa Durch diesen Tunnel, der zur Dusche in seiner Zelle führte, entkam der Drogenboss Joaquín Guzmán, genannt „El Chapo“, im Juli 2015 aus einem Hochsicher­heitsgefän­gnis im Zentrum von Mexiko-Stadt. Im Februar 2014 war er festgenomm­en worden (kleines Bild)...

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