Jenny Erpenbeck
Der Roman der Stunde erzählt von Flüchtlingen und einem Professor, der lernt
ichard, Professor an der Humboldt-Universität, Altphilologe mit DDR-Biografie, ist in Ruhestand gegangen. Jetzt beginnt er das, was man einen neuen Lebensabschnitt nennt. Er hat keine finanziellen Sorgen, wohnt komfortabel am Ostrand Berlins im eigenen Haus am See – allein. Seine Frau ist schon einige Jahre tot, die Geliebte fort, Kinder gibt es nicht, aber ein paar alte Freunde in der Nachbarschaft. Was Richard beschäftigt, ist ein Ertrunkener, der seit Monaten im See verschwunden ist – und die unheimliche Stille des Ruhestands. Wenn es Geräusche gibt im Haus, Lebenszeichen, dann sind die immer nur von ihm.
Richard beginnt sich für die Afrikaner zu interessieren, die auf dem Oranienplatz in Berlin ein ProtestCamp errichtet haben. Weniger, weil er unbedingt helfen will, sondern aus Neugier. „Über das sprechen, was Zeit eigentlich ist, kann er wahrscheinlich am besten mit denen, die aus ihr hinausgefallen sind. Oder in sie eingesperrt, wenn man so will“, heißt es in Jenny Erpenbecks Roman „Gehen, ging, gegangen“. Zwei Welten prallen hier aufeinander: Der gut situierte Akademiker, der eingebettet ist in eine ge- wachsene Welt aus Verlässlichkeit und Gewohnheit – und die Flüchtlinge aus Afrika, die unter Lebensgefahr in ein fremdes Land gekommen sind, in dem es keine Zukunftsgewissheit für sie gibt. Ihr einziger Besitz sind Erinnerungen und ein paar Klamotten aus der Kleiderspende. Ihr größtes Problem: verurteilt sein zur Untätigkeit, ein zermürbendes Warten auf Behördenschritte. Entwurzelte und sozial Entmündigte, die sich aufgelehnt haben und nach einer Einigung mit dem Senat nun auf verschiedene Unterkünfte verteilt werden. Eine liegt in Richards Nachbarschaft. Dort leben Raschid, Zair, Abdusalam, Ithemba, Osarobo, Karon…
Jenny Erpenbeck erzählt in ihrem Roman mit Empathie vom Alltag der Flüchtlinge, die Tage oft lieber in der trostlosen Unterkunft verschlafen als sich in der Sackgasse ihrer Situation wund zu laufen. Richard, der emeritierte Professor und geduldige Zuhörer, erfährt bei seinen Besuchen von Biografien und Schicksalen, von zerstörten Lebensperspektiven, Verlusten und zurückgelassenen Familien. „Nach nicht einmal einer Stunde des Zuhörens ist er erschöpfter als nach einer seiner Vorlesungen an der Uni. Wenn eine ganze Welt, die man nicht kennt, auf einen einstürzt, wo fängt man da an mit dem Sortieren?“
Genau das tut Erpenbeck nicht: Leute einsortieren in Behördenschubladen. Es gibt in diesem Buch so etwas wie ein menschenfreundliches literarisches Bemühen, jedem der Flüchtlinge ein Eigenleben zu geben, das sonst ja gleich unter Aktendeckeln verallgemeinert und nivelliert wird. „Ohne Erinnerung war der Mensch nur ein Stück Fleisch auf dem Planeten.“
Jenny Erpenbecks Roman, angeregt durch wahre Begebenheiten, geschrieben vor der dramatischen Zuspitzung der „Flüchtlingskrise“, ist das Buch der Stunde geworden. Richard, der sich auf die fremde Welt vor seiner Haustüre einlässt und lange Interviews führt, lernt nicht nur Individuen, ihre Träume und Traumatisierungen kennen. Er tut auch konkret etwas, gibt bei sich daheim Klavierunterricht, hilft bei Deutschkursen (wo sich die Flüchtlinge auch mit den unregelmäßigen Verben befassen: Gehen, ging, gegangen), kauft der Familie eines seiner Freunde sogar ein Grundstück in Ghana. Und: Richard erkundet die manchmal kafkaeske Welt der Behördenvorschriften, Paragrafen und Rechtslagen, die leicht als Rechtsschieflagen empfunden werden können. Jenny Erpenbeck verleiht der Wut Sprachkraft. „Sie verteidigen ihr Revier mit Paragrafen, mit der Wunderwaffe der Zeit ha- cken sie auf die Ankömmlinge ein, stechen ihnen mit Tagen und Wochen die Augen aus, wälzen die Monate über sie hin, und wenn sie dann noch immer nicht still sind, geben sie ihnen, vielleicht, drei Töpfe in verschiedenen Größen, einen Satz Bettwäsche und ein Papier, auf dem Fiktionsbescheinigung steht.“
Richard/Erpenbeck denkt nach über die Ursachen, über Flucht, Entwurzelung, Antriebskräfte. „Tausende von Jahren dauert die Bewegung der Menschen über die Kontinente schon an und niemals hat es Stillstand gegeben.“Und niemals hat es Einbahnstraßen gegeben. „Es ist noch gar nicht so lange her, denkt Richard, da war die Geschichte der Auswanderung und der Suche nach Glück eine deutsche Geschichte.“
In seinen schwächeren Passagen gleicht Erpenbecks Roman einem Seminar über Flüchtlingsursachen. Da liest sich manches wie ein Zeitungsdossier über die Lage im Niger und in Libyen, anderes wie ein Positionspapier von Pro Asyl oder ein Leitartikel. Richard ist das Medium der Autorin – und man merkt dem Roman leider an, dass diese Figur vor allem ein Instrument ist. „Richard weiß, dass er zu den wenigen Menschen auf dieser Welt gehört, die sich die Wirklichkeit, in der sie mitspielen wollen, aussuchen können“, lesen wir.
Vielleicht hat Jenny Erpenbeck zu viel guten Willen hineinpacken wollen in ihr Buch, das am Ende einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt. Denn es gibt da auch, kurz vor Schluss, eine Doppelseite, die wie ein Widerhaken gegen Fertiglesen wirkt. Die Seiten sind weiß und leer bis auf die jeweils mittig gesetzte Frage: „Wohin geht ein Mensch, wenn er nicht weiß, wo er hingehen soll?“Michael Schreiner