Jonathan Franzen
Wie der Mensch schuldig wird – ein Roman mit einer gewagten These
den jobbt, ist nur übergriffige Liebe zu erwarten, vom Vater nichts. Sie kennt ihn nicht. Auch nicht seinen Namen. Er ist der Köder für die Falle, in die Pip tappen wird – als Praktikantin im Camp des bösen Wolfs, „eine Ruhmfabrik, die sich als Geheimnisfabrik tarnte“. Der Guru verspricht Aufklärung, als Gegenleistung soll Pip die Redaktion des Denver Independent ausspähen – und ihren Chefredakteur Tom Aberant.
Nach seinen Romanen „Korrekturen“und „Freiheit“, in denen Franzen Familien erst bröckeln, dann zerfallen ließ, ist „Unschuld“im Grunde die logische Fortsetzung: Hier gibt es die Familie gar nicht mehr, ohne Orientierungspunkte taumelt die unschuldige Pip durch den globalen Irrsinn und in die Fänge des Gurus im fernen Bolivien, dem sie lediglich ihre Aufrichtigkeit entgegensetzen kann. Wenn Wolf mit ihr spricht, überkommt sie das Gefühl, „als hätte man ihr den Schädel aufgeklappt und das Gehirn mit einem Holzlöffel umgerührt.“
„Unschuld“ist also kein Thesenroman, sondern ungleich mehr: ein Familienroman, ein Entwicklungsroman, ein Zeitgeistroman, ein Roman über Journalismus – mit einem grandiosen Rechercheauftrag zum Thema Sex auf einem Atomsprengkörper – und ein Wende-Roman, große Teile spielen in der DDR, „der Republik des schlechten Geschmacks“. Oder auch: „Unschuld“ist ein großartiger Roman übers Auseinanderklaffen von moralischem Ideal und wirklichem Leben, darüber, wie der Mensch schuldig wird. Die These aber gibt es! Formuliert ausgerechnet von Andreas Wolf, ein von Franzen merkwürdig überzeichneter Charakter. Wolf vergleicht das Internet mit einem totalitären Staat, die Google-Welt mit der DDR, bis hin zum versponnenen Satz, Stalin habe Trotzki zum Bill Gates der Sowjetunion gemacht. „Man konnte mit dem System kooperieren oder es ablehnen, aber was überhaupt nicht möglich war, ganz gleich, ob man ein sicheres, angenehmes Leben genoss oder im Gefängnis saß, war, gar nicht mit ihm in Beziehung zu treten.“Durch Wolf dringt das Franzen’sche Sendungsbewusstsein, der Erzähler scheint hinter dem Kulturkritiker zurückzutreten, das liest man den Passagen an. Für den Rest aber gilt: Franzen erweist sich als „Tolstoi unter den heutigen Erzählern“– ein großer Vergleich, aufgeschnappt bei Google! Stefanie Wirsching Jonathan Franzen: Unschuld Übers. von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld, Rowohlt, 832 Seiten, 26,95 Euro