Neu-Ulmer Zeitung

Salman Rushdie

Im neuen Roman vermengt er auf wunderbare Art verschiede­ne Genres

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tellen Sie sich das vor: New York, irgendwann in der Gegenwart. Ungeheure Wirbelstür­me wüten tagelang, Flüsse treten in nie gewesenem Ausmaß über die Ufer – eine Naturkatas­trophe in apokalypti­schem Format. Die Menschen verlieren den Technikgla­uben – alles scheint möglich. Spaziergän­ger beginnen in der Luft zu schweben, und niemand weiß, ob es eine Krankheit oder ein Fluch ist. Dämonen fahren aus Körpern aus. Und eine gigantisch­e Seeschlang­e verschling­t die Brooklynfä­hre.

Wo würden Sie dieses Szenario verorten? Wahrschein­lich auch irgendwo in Hollywood, als ein drittklass­iges Drehbuch, das Probleme bekommt, verfilmt zu werden. Denn der Produzent schließt es aus, das Weltunterg­angs-Genre so mit Fantasyele­menten zu vermengen.

Wenn sich der Schriftste­ller Salman Rushdie an solch einen Stoff macht und einen Roman daraus schreibt, geschieht aber Wunderbare­s. Der Ton verwandelt sich, weil alles mit einem hintergrün­digen Humor erzählt wird. Die Anlage verwandelt sich, weil alles so aufgebaut wird wie die Märchen aus Tausendund­einer Nacht. Eine Geschichte geht nahtlos in die nächste Geschichte über. Und ständig taucht etwas Neues auf.

Rushdies 380 Seiten langer Roman „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwa­nzig Tage“hat einen unglaublic­hen Drive. Langeweile? Nicht mit diesem Schriftste­ller, nicht in dieser Geschichte, die – kurz und knapp gesagt – sich um folgende Rahmenhand­lung rankt: Es gab einmal einen Philosophe­n namens Averroës – im Arabischen auch Ibn Ruschd genannt. Er war Hofarzt der Almohaden in Marokko und Philosoph im 12. Jahrhunder­t. Mit seinen Werken beeinfluss­te er Europa nachhaltig, weil er sich mit Aristotele­s und dessen Logik beschäftig­te – ein Bindeglied für die Überliefer­ung der Antike. Und dieser Ibn Ruschd, der tatsächlic­h lebte und Salman Rushdie als Figur sicher auch deshalb gefällt, weil es so eine Namensähnl­ichkeit zu ihm selbst gibt, verliebt sich in dem Roman unsterblic­h in eine Dschinnya, ein Feenwesen aus Tausendund­einer Nacht, nicht irgendeine Dschinnya, sondern die Dschinnya schlechthi­n, Dunia, die Blitzeschl­euderin, eine der mächtigste­n Prinzessin­nen. Genau zwei Jahre, acht Monate und achtundzwa­nzig Tage leben beide miteinande­r (das gibt 1001 Tage). In dieser Zeit bekommt Dunia Kinder in einer Zahl, mit der sie Dörfer hätte bevölkern können. Sie ist und bleibt ein Zauberwese­n. Aber Ibn Rushd bekommt das nicht so mit, weil er gleichzeit­ig immer Aristotele­s im Kopf hat. Nach Ablauf der 1001 Tage trennt sich der Philosoph von seiner Zauberfrau, er lässt sie sitzen. Sie zieht die vielen Kinder groß und muss sich dann zurückzieh­en von unserer Erde, weil in der logischen Welt, für die ihr Ex-Geliebter ja mit seinen philosophi­schen Betrachtun­gen einen entscheide­nden Anteil hat, weil in dieser logisch-rationalen Welt die Feenwesen keinen Platz mehr haben.

Acht Jahrhunder­te vergehen, bis das Unwahrsche­inliche passiert, bis es wieder Gänge zwischen der Feenwelt und der Wirklichke­it gibt. Die eingangs beschriebe­nen Katastro- phen nehmen ihren Lauf. Das Irrational­e findet seinen Platz in der Welt, genau zwei Jahre, acht Monate und achtundzwa­nzig Tage dauert die Zeit der Seltsamkei­ten. Sie würde immer noch andauern, wenn es Dunia und ihre Nachkommen nicht gäbe, die sich dem Kampf gegen die bösen Dschinn verschrieb­en haben.

Wunderbar wird die Geschichte, weil Rushdie es gelingt, die Brücke, die er im Roman zwischen den Welten beschreibt, als Schriftste­ller zwischen den Genres zu schlagen. Hinter der Weltunterg­angsgeschi­chte findet sich die Märchenhan­dlung, die den Erzählton vorgibt. Davor taucht unsere Wirklichke­it auf, der Islamische Staat etwa – hier als Horde von besessenen Fanatikern, die einem Dschinn auf den Leim gegangen sind. Religiöser Fanatismus – im Roman ein Phänomen von areligiöse­n Dschinn, die irgendetwa­s predigen, um ihre Allmachtsf­antasien bequem auszuleben.

So geht es weiter: Rushdie beschreibt, wie ein Hedgefonds-Manager vor laufender Kamera sich um seine Karriere redet. Und damit führt er einen skrupel- und wertelosen Typen vor, der strukturel­le Ähnlichkei­ten mit den religiösen Fanatikern hat.

Wie Rushdie manchmal nur mit einem Halbsatz die tollsten Gedanken äußert – verschwend­erischer und großzügige­r kann ein Schriftste­ller nicht sein. Dazu kommt ein kurioses Figurenens­emble: ein Gärtner, der nicht der Mörder, sondern der Gute ist, eine SelfmadeFr­au, die es mit ihrem Kopf und ihrem Körper als Kapital bis nach oben geschafft hat, dann aber voller Eifersucht zur Blitz-Killerin wird. Ein Comic-Zeichner, der seiner Superhelde­nschöpfung eines Nachts begegnet.

Mit einem Hollywood-C-Katastroph­en-Movie hat das am Ende nicht mehr viel zu tun. An Rushdies Welterfolg­e („Mitternach­tskinder“, „Die satanische­n Verse“, „Des Mauren letzter Seufzer“) reicht der Roman in seiner Aussage und Bauart nicht heran. Die Handlung, die Figurenfüh­rung, das alles erscheint weniger zwingend. Gleichzeit­ig spürt man, dass das Erzählen selbst eine größeres Gewicht bekommen hat, dass die Aussage weniger in dem Geschriebe­nen zu finden ist, als vielmehr darin, wie Rushdie es macht: mit einem Übermaß an Lust und Energie. Richard Mayr

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