Michael Winterhoff
„Mythos Überforderung“– der Psychiater nimmt sich diesmal die Erwachsenen vor
fen, auch Entscheidungen, die anderen nicht passen. Ich habe eine eigene Meinung, ein Standing, ich kann vernunftorientiert denken und handeln – auch in die Zukunft hinein. Das können Kinder nicht. Kinder träumen davon, erwachsen zu sein und über sich selbst bestimmen zu können. Warum wollen denn Ihrer Ansicht nach die Erwachsenen diese Freiheit nicht mehr nutzen? Oder können sie es nicht? Winterhoff: Wenn Sie einmal in die Gesichter in der Stadt hineinschauen, gestresst, genervt, gereizt, depressiv. Und wenn Sie einen sehen, der strahlt, denken Sie, der hat Drogen genommen. Das hat sich total verändert. Wie ist das zu erklären? In der multimedialen Welt werden wir am laufenden Band mit Krisenund Negativnachrichten konfrontiert. Was passiert mit unserer Psyche, wenn Sie eine Negativnachricht bekommen? Wenn die Psyche funktioniert, dann würde sie prüfen, betrifft mich die Meldung oder nicht. Und wenn sie mich betrifft, was kann ich tun? Bekommen Sie aber zehn Meldungen auf einmal herein, sind Sie im Zustand der diffusen Angst. Und so sind die Erwachsenen zunehmend drauf: angstgesteuert. Man hat Scheuklappen auf, hetzt vor sich hin, man ist nur noch im Zustand des Überlebens. Wenn man in dem Zustand bleibt, rattert man auf den Tod zu, man hat keine Lebensqualität mehr.
Also eben doch überfordert… Winterhoff: Wir überfordern uns mit viel zu vielen Meldungen und viel zu vielen Entscheidungen, die wir treffen müssen, und verstärkt wurde die Problematik durch das Smartphone. Sie sind immer auf mehreren Kanälen erreichbar und ständig müssen Sie entscheiden, gehe ich ran, gehe ich nicht ran, ist es wichtig, ist es nicht wichtig. Damit bewegen wir uns wie an einem Adventssamstag in einer vollen Stadt, Weihnachtsgeschenke einkaufen: Ich gebe Ihnen fünf bis zehn Minuten und Sie sind nicht mehr Sie selbst. Sie sind fremdbestimmt durch Reize. Wenn ich den Input zu hoch habe und zu viele Entscheidungen treffen muss, bin ich in einer ähnlichen Verfas- sung. Ich habe zwar die Möglichkeit, erwachsenmäßig zu denken, aber durch die Überforderung der Psyche ist es nicht möglich. Und deshalb kommt es zu einer Regression, der Erwachsene verhält sich nicht mehr erwachsen, er ist unfrei wie ein Kind. Sie fordern, wir müssen uns mit dem Thema Psychohygiene befassen. Warum fällt es dem Menschen so schwer, seine Psyche zu schützen? Winterhoff: Unsere Psyche hat drei Fehler. Sie kann sich selbst nicht beurteilen. Sie kann auch nicht feststellen, was uns guttut und was nicht. Und unsere Psyche tut nicht weh. Das heißt, wir können mit unserer Psyche Marathon laufen, das würden wir mit unserem Körper niemals schaffen. Diese drei Punkte sind ja auch wichtig, dass wir Krisen und Katastrophen überstehen. Aber was die neuen multimedialen Möglichkeiten betrifft, haben wir eben keine Alarmsysteme, die sagen, stopp, stopp, stopp, du überforderst mich.
Kennen Sie diesen Zustand von sich selbst? Winterhoff: Ja, ich war in dem Zustand drin, ich bin ja als Psychiater nicht gefeit, das ist aber Jahre her. Da war ich so unter Druck, dachte aber, das liegt an der Praxis. Aber ich war nicht einmal mehr in der Lage, eine Hose zu kaufen. Das heißt, im letzten Moment bin ich in die Stadt, um eine Hose zu kaufen und habe dann gleich drei genommen, um es hinter mir zu haben. Ich habe damals das Angebot bekommen, eine Woche Exerzitien am Montblanc zu machen. Eine Woche Schweigen. Das war schon heftig. Nach drei Tagen bin ich abgestiegen ins Tal und habe Kaffee und Kuchen bestellt, um zu reden, habe dann aber die Woche durchgehalten. Als ich nach Hause kam, sagte meine Tochter, kaum war ich in der Tür: „Mama, den Papa schicken wir jetzt öfter ins Kloster.“ Warum sprechen Sie von einem Mythos, wenn doch die Überforderung existiert? Winterhoff: Der Mythos liegt an etwas anderem. Der Mythos liegt daran, dass der Erwachsene sich als Opfer fühlt, nicht mehr als Kapitän über sich selbst. Ich sage: „Leute, stopp!“Wenn man die Mechanismen durchschaut und wenn man etwas tut, sind wir nicht Opfer. Wir können, auch mit unserer Psyche, die heutige Zeit wunderbar bestehen, wenn wir zwei Dinge beachten. Das eine ist, ich würde mir wünschen, dass wir in Deutschland den Sonntag einführen. Der Sonntag ist ursprünglich eingeführt worden, unabhängig von religiösen Gründen, weil man nicht sieben Tage auf dem Acker stehen kann. Ich brauche einen Tag Erholung. Und heute stehen wir mit unserer Psyche sieben Tage auf dem Acker. Einen Tag multimedial frei, dann würden Sie Ihrer Psyche schon einmal unheimlich etwas gönnen.
Und das halten Sie selbst ein? Winterhoff: Ja, das ist Psychohygiene, ich lese an so einem Tag auch keine Mails. Der zweite Teil aber ist, wie kann ich dafür sorgen, dass ich in mir ruhe, dass ich über meine Funktionen verfügen kann. Und das kommt nicht mehr von alleine.
Das wäre, wie im Buch beschrieben, der fünfstündige Waldspaziergang? Winterhoff: Das wäre der schwierigste Einstieg! Ich gehe ein bis zwei Stunden durch den Wald alle zwei Wochen, dann bleibe ich clean. Würde ich vier Wochen nicht gehen, fängt die Unruhe an. Spätestens alle zwei Wochen sollte man gezielt etwas für seine Psyche tun, also in den Wald gehen, Yoga machen oder sich einfach eine halbe Stunde in eine Kirche setzen. Dann bleibt die Psyche erwachsenmäßig. Wenn man jetzt jahrelang nicht für seine Psyche gesorgt hat, dann wird sich natürlich nicht gleich etwas ändern, wenn man einmal einen zweistündigen Spaziergang macht. Vergleichen Sie das mit dem Rücken: Eigentlich müssten wir alle etwas für unseren Rücken tun, tun wir aber nicht, es sei denn, man hat Rückenschmerzen. Wenn man dann anfängt, ist nach zwei, drei Übungen natürlich nicht gleich Erfolg da. Waldspaziergang, sich in die Kirche setzen, das klingt einfach. Winterhoff: Das ist auch der Punkt, der dann kommt, wenn ich das erkläre. Aber das Einfache ist so schwer! Das ist wie mit den Rückenübungen. Sich daran zu halten, sie auch täglich auszuüben, ist am schwersten.
Der Trend geht doch in die Richtung: Überall neue Yogastudios, es wird über Work-Life-Balance geredet, Wellness-Wochenenden gebucht… Winterhoff: Wellness bringt nichts. Da bin ich nicht bei mir, da gönne ich mir was, wie ein gutes Essen. Bei mir sein bedeutet ja, dass ich wirklich mich alleine aushalte. Und dass der Trend hingeht in Richtung Yoga, ist ja nur Ausdruck, dass immer mehr Erwachsene merken, es stimmt da etwas nicht.
Die Geschichte zeigt aber doch auch: Jeder technische Fortschritt erfordert einen Anpassungsprozess. Winterhoff: Ja, und ich glaube auch, dass sich das lösen wird. Wir werden in einigen Jahre mit diesen multimedialen Möglichkeiten umzugehen wissen. Dann wird es beispielsweise als ungezogen gelten, wenn man mit Freunden zusammensitzt und einer das Handy herausholt. Die Gesellschaft wird gegensteuern, und das beginnt ja auch schon. Ich kann ja bestenfalls nur eine Diskussion anstoßen. Wir müssen uns über dieses Thema unterhalten, damit es dem Einzelnen bewusst wird und damit der Einzelne schneller und früher gegensteuert. Stefanie Wirsching