Bricht Schulz mit Schröders Politik?
Die Agenda 2010 war umstritten, aber erfolgreich. Ein großer Fan von ihr ist der Kanzlerkandidat der SPD dennoch nicht. Viel lieber redet er von den Fehlern im System
Fast fünf Millionen Arbeitslose, die Rentenkasse vor dem Kollaps und eine Wirtschaft, die schrumpft anstatt zu wachsen, während gleichzeitig die Lohnnebenkosten in die Höhe schießen: Als der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im März 2003 ein ganzes Paket an Sozialreformen von der Praxisgebühr bis zur Reduzierung des Rentenniveaus ankündigt, ist Deutschland der kranke Mann Europas, ein Land auf dem absteigenden Ast. Heute dagegen ist dieses Land auch dank Schröders umstrittener Agenda 2010 wieder eine der stärksten Volkswirtschaften der Welt. Nur die SPD hat ihren Frieden mit den Reformen der Schröder-Jahre bis heute nicht gemacht.
Nachdem die Sozialdemokraten in der laufenden Legislaturperiode mit der abschlagsfreien Rente mit 63 schon einmal Hand an die AgendaReformen gelegt haben, plant ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz für den Fall eines Wahlsieges nun die nächsten Korrekturen: Er will älteren Arbeitslosen länger als bisher das (deutlich höhere) Arbeitslosengeld I zahlen. Wenn jemand mit 50 Jahren nach 15 Monaten Erwerbslosigkeit schon in Hartz IV falle, argumentiert er, dann gehe das an die Existenz. „Fehler zu machen ist nicht ehrenrührig“, fügt Schulz dann noch hinzu, ohne Schröder beim Namen zu nennen. Wichtig aber sei: „Wenn Fehler erkannt werden, müssen sie korrigiert werden.“Im Moment erhalten Arbeits- lose, die jünger als 50 Jahre sind, maximal ein Jahr Arbeitslosengeld I, ältere je nach Alter und Versicherungszeit maximal zwei Jahre.
Tatsächlich ist der Arbeitsmarkt durch die Agenda 2010 flexibler und robuster geworden. So hart es im Einzelfall sein mag, wenn ein arbeitsloser Ingenieur nach 15 Monaten ohne Beschäftigung auch als Packer am Förderband arbeiten muss, um nicht in Hartz IV zu landen, so sehr hat sich das Prinzip „Fördern und fordern“insgesamt bewährt. Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist so hoch wie nie zuvor, die Zahl der Arbeits- losen geht kontinuierlich zurück, die Wirtschaft brummt. Schulz dagegen sagt, er wolle in geordnete Bahnen lenken, was vor einigen Jahren „aus dem Ruder gelaufen ist“. Es gehe um „Respekt vor der Lebensleistung der Menschen“. Wer Jahre oder Jahrzehnte hart gearbeitet und Beiträge gezahlt habe, habe im Falle der Arbeitslosigkeit ein Recht auf Unterstützung.
Mehr Mitbestimmung und mehr Kündigungsschutz, eine Mindestrente deutlich über dem Niveau der Sozialhilfe, mehr Weiterbildungskurse bei den Jobcentern und strengere Vorschriften für Unternehmen, die Arbeitsverträge befristen: Es sind klassisch sozialdemokratische Themen, mit denen Schulz im Wahlkampf punkten will. Wo Schröder auch die Interessen der Wirtschaft im Auge hatte, sucht der Seiteneinsteiger aus dem Europaparlament demonstrativ den Schulterschluss mit den Gewerkschaften. Nicht von ungefähr hat er für seine erste programmatische Rede als Merkel-Herausforderer am Montag eine Arbeitnehmerkonferenz mit mehr als 1000 Teilnehmern in Bielefeld als Bühne gewählt. Schulz, der in der SPD bislang eher den moderat Konservativen zugerechnet wird, macht sich die Forderung der Parteilinken nach einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer zwar nicht explizit zu eigen – wenn der Kandidat sich über die „Zockerei an den Finanzmärkten“erregt oder für kürzere Arbeitszeiten in Deutschlands Betrieben plädiert, klingt er allerdings schon fast wie einer von ihnen.
Entsprechend nervös wird die Wirtschaft allmählich. „Ich sehe mit Sorge, dass in der Politik zu viel darüber geredet wird, wie sich umverteilen lässt, und viel zu wenig darüber, wie sich Wohlstand durch Wachstum schaffen lässt“, warnt der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Dieter Kempf. In unsicheren Zeiten, in denen protektionistische Tendenzen die Weltwirtschaft bedrohten, sei das gefährlich, sagt er – und interpretiert Willy Brandts legendäre Forderung, mehr Demokratie zu wagen, kurzerhand neu: „Jetzt muss die Politik mehr Wirtschaft wagen.“
Die Bundesregierung dringt auf eine rasche Lösung im Fall des in der Türkei inhaftierten deutschtürkischen Journalisten Deniz Yücel. „Für uns ist der Fall Yücel deshalb von allergrößter Bedeutung, weil er für den Einsatz Deutschlands für die Pressefreiheit steht“, sagte Außenamts-Sprecher Martin Schäfer am Montag in Berlin. Er vermied es allerdings erneut, ausdrücklich die sofortige Freilassung Yücels zu fordern. „Die Bundeskanzlerin und das gesamte Auswärtige Amt stehen hinter dem Bemühen, zu verhindern, dass Herr Yücel dauerhaft seine Freiheit verliert“, sagte Schäfer.
Deutlich mahnte Bundesjustizminister Heiko Maas die Türkei zur Wahrung der Pressefreiheit. „Wer bei uns die Meinungsfreiheit in Anspruch nimmt, muss auch selbst Rechtsstaat und Pressefreiheit gewährleisten“, sagte der SPD-Politiker in Anspielung auf den umstrittenen Auftritt des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim am Samstag in Oberhausen. Yilidirim hatte dort vor tausenden türkischstämmigen Zuhörern für die umstrittene Verfassungsreform geworben, die Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mehr Macht geben soll.
Der Türkei-Korrespondent der Welt war vergangenen Dienstag in Istanbul festgenommen worden. Gestern wurde der Gewahrsam um weitere sieben Tage verlängert, spätestens danach muss er freigelassen oder einem Haftrichter vorgeführt werden. Die Behörden werfen dem 43-Jährigen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, Datenmissbrauch und Terrorpropaganda vor. Hintergrund sind offensichtlich Berichte Yücels über eine HackerAttacke auf das E-Mail-Konto des türkischen Energieministers Berat Albayrak. Yücel besitzt die türkische und die deutsche Staatsangehörigkeit. Mit einem Autokorso durch Berlin demonstrierte am Sonntag eine Initiative für Yücel.