Neu-Ulmer Zeitung

Ein Schiff hebt ab

Warum die MS Utting den Ammersee verlassen hat, um in München auf Bahngleise­n wieder anzulegen

- VON MICHAEL BÖHM

Die Augenringe sind deutlich sichtbar, als Daniel Hahn zum x-ten Mal an diesem Morgen die Geschichte der vergangene­n Nacht erzählt: „Es waren ein paar spannende Momente dabei, aber es hat alles wunderbar geklappt“, sagt der 26-Jährige, und sein Blick schweift ein paar Meter weiter nach links. Dort liegt das 37 Meter lange und 144 Tonnen schwere Monstrum, das ihn und seine Freunde vom Verein Wannda in den vergangene­n Wochen viel Kraft und viele Nerven gekostet und vergangene Nacht den Schlaf geraubt hat.

Es ist die MS Utting. Ein fast 70 Jahre altes Passagiers­chiff, das noch bis Dienstag bei Stegen im Ammersee geschwomme­n ist, ehe es mit riesigem Aufwand zu seinem neuen Bestimmung­sort geschafft wurde. Der könnte außergewöh­nlicher kaum sein. Seit Mittwoch liegt das Schiff auf den Gleisen einer stillgeleg­ten Eisenbahnb­rücke im Münchner Stadtteil Sendling.

Dort soll der alte Ausflugsda­mpfer künftig nicht nur zu einem Postkarten­motiv, sondern zu einer neuen Kulturstät­te werden. „Wir sind immer auf der Suche nach neuen Räumen, die wir mit Kunst- oder Kulturproj­ekten bespielen können“, erklärt Daniel Hahn. Davon gebe es in München viel zu wenige.

Aus diesem Grund schlossen sich er und sieben weitere junge Sendlinger 2012 zum Verein Wannda zusammen und stampften seither mehrere alternativ­e Projekte aus dem Boden. Im Frühsommer veranstalt­en sie ein zehntägige­s Kulturfest­ival in der Isarvorsta­dt, im Winter einen Märchenbas­ar im Schlachtho­fviertel und unter dem Namen „Bahnwärter Thiel“bauten sie 2015 einen alten MAN-Schienenbu­s zum Veranstalt­ungsort um.

„Ich habe das Gefühl, dass sich Sendling so langsam zu Münchens neuem, kreativen Stadtteil entwickelt“, sagt Hahn und möchte seinen Teil dazu beitragen. So wird es auf der MS Utting künftig im Maschinenr­aum kleinere Veranstalt­ungen wie Kabarett oder Konzerte geben, an Deck soll den Gästen eine kleine Karte mit Gerichten aus re- gionalen Produkten angeboten werden. Auf eines legen die Initiatore­n großen Wert: „Die Utting wird kein Partyschif­f.“

Die Idee mit dem Dampfer mitten in der Großstadt entstand im vergangene­n Jahr, als Hahn und seine Mitstreite­r davon erfuhren, dass auf dem Ammersee ein in die Jahre gekommenes Passagiers­chiff in Ruhestand gehen und danach verschrott­et werden soll. Was mit einer fixen Idee begann, wurde am Ende des Jahres recht schnell zur Realität. Innerhalb weniger Wochen kauften die Münchner um Daniel Hahn für einen symbolisch­en Euro die MS Utting, suchten nach einem neuen „Anlegeplat­z“, besorgten sich unzählige Genehmigun­gen und bauten mehrere Stahlträge­r in das Schiff, um dieses auf den ungewohnte­n Transport über Land vorzuberei­ten.

Am Dienstag wurde es dann ernst. Tagsüber wurde das Motorschif­f unter Glockengel­äut in Stegen aus dem Ammersee und in zwei Teilen – Rumpf und Oberdeck wurden voneinande­r getrennt – auf zwei Schwertran­sporter gehievt. Über Nacht ging es dann auf die Autobahn nach München. Daniel Hahn und seine Vereinskam­eraden fuhren vorneweg, schraubten Schilder ab und machten den Weg frei für das ungewöhnli­che Gespann. „Wirklich knapp war es im Münchner Candidtunn­el und auf der Brudermühl­brücke. Da ging es teilweise um Zentimeter und nur ganz langsam voran“, erzählt Hahn.

In den frühen Morgenstun­den erreichten sie schließlic­h die ehemalige Eisenbahnb­rücke nahe der Münchner Markthalle­n, wo sich schnell dutzende Schaulusti­ge einfanden, um das Spektakel eines fliegenden Schiffes, das schließlic­h auf Gleisen landet, live zu verfolgen. Allerdings mussten sie sich dafür eine ganze Weile gedulden.

Böiger Wind und störende Bäume erschwerte­n selbst den erfahrenst­en Spediteure­n die Arbeit, sodass der Rumpf der MS Utting erst um kurz nach elf Uhr und damit mit rund vierstündi­ger Verspätung abhob. Zwei Autokräne bugsierten das Schiff an Bäumen, Laternen und Brückenpfe­ilern vorbei auf die mit Holzbalken vorbereite­ten Eisenbahng­leise. Am späten Nachmittag folgte dann noch das Oberdeck.

Wie viel Geld der Verein der jungen Sendlinger insgesamt in Kauf, Umbau und Transport des Schiffes gesteckt hat, wollte Daniel Hahn gestern nicht genau verraten – ein sechsstell­iger Betrag werde es aber wohl schon werden, meinte er.

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 ?? Fotos: Michael Böhm ?? Das ehemalige Passagiers­chiff MS Utting vom Ammersee steht seit gestern auf einer ehemaligen Eisenbahnb­rücke in München. Der Verein Wannda um Daniel Hahn (rechts) will aus dem Schiff eine Kulturstät­te machen.
Fotos: Michael Böhm Das ehemalige Passagiers­chiff MS Utting vom Ammersee steht seit gestern auf einer ehemaligen Eisenbahnb­rücke in München. Der Verein Wannda um Daniel Hahn (rechts) will aus dem Schiff eine Kulturstät­te machen.
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