Erst verhungert das Vieh, dann der Mensch
Tote Ziegen und Kamele sind die Vorboten der in Somalia drohenden Hungersnot. Bei der letzten kamen hunderttausende Menschen ums Leben. Nomadische Viehhirten erzählen von ihrer Not
Die Somalierin Saida Mousseh Mohammed Hassan hat in ihrem Leben viel erlebt und erlitten: Bürgerkrieg, Krankheiten und jetzt Dürre und Hunger. Die tiefen Falten im Gesicht der etwa 80-Jährigen und ihre rissigen Füße erzählen vom Nomadenleben im unwirtlichen Nordosten Somalias. Vor einigen Monaten noch besaß Hassan etwa 300 Ziegen. Jetzt blickt sie starr auf die Skelette von einem Dutzend ihrer Tiere, die ausgeweidet von Hyänen in der Sonne liegen. Hassan zählt zu den 6,2 Millionen Somaliern, etwa der Hälfte der Bevölkerung des Landes am Horn von Afrika, die von einer schweren Dürre betroffen sind.
Somalia steht am Rande zu einer Hungersnot, warnen die Vereinten Nationen. Bei der letzten Hungersnot 2011 kamen mehr als 250000 Menschen ums Leben. Über Monate hinweg suchte Hassan mit ihrer Familie vergeblich nach Weideland und Futter für das Vieh. Nach mehreren ausgefallenen Regenzeiten sind nur noch Dornbüsche übrig geblieben. Ziege, Kamel und Mensch hungern im Nordosten Somalias gemeinsam. Wenn Ziegen und Kamele verenden, schrillen bei Experten die Alarmglocken. Der Mensch kommt als Nächstes. Knapp drei Millionen Menschen brauchen UN-Angaben zufolge dringend Lebensmittelhilfe. Mehr als 360 000 Kinder sind akut mangelernährt, Zehntausende davon vom Hungertod bedroht.
Diese Zahlen könnten sich den UN zufolge im Laufe des Jahres verdreifachen, wenn nicht rasch mehr Hilfe kommt. „Vieh ist das Rückgrat unserer Wirtschaft, die Lebensgrundlage dieses Landes und dieser Menschen“, erklärt der Vizepräsident von Puntland, Abdihakim Abdullahi Omar Amey, in seinem Büro in der regionalen Hauptstadt Garowe. Mehr als die Hälfte der Nutztiere sei verendet. „Die Lage ist sehr ernst und sehr angespannt. Menschen sterben.“Puntland erklärte sich 1998 zu einer autonomen Region und verfügt über eine eigene Regierung. Anders als das nahe Somaliland strebt Puntland jedoch keine Abspaltung von Somalia an. Juristisch gehören beide Regionen zu Somalia, sie sind aber international nicht anerkannt. Seit November lebt Hassan in einem der zahlreichen Zeltlager, die sich um Ortschaften gebildet haben.
Hier in Usguro, mitten in der Halbwüste, haben sich die Dorfältesten im Schatten eines Akazienbaums versammelt. „Die Menschen, die stark genug sind, haben sich zur Küste aufgemacht“, erklärt Abshir Hirsi Ali. Doch das wenige Futter sei schon wieder abgeweidet. „Die Schwachen sind hier. Und die Menschen, die ihren ganzen Viehbestand verloren haben.“Ali blickt über die Zelte der Nomaden, bedeckt mit Grasmatten und Plastikplanen. Die Schwachen sind Kinder, Ältere, Kranke und die, die sich um sie kümmern – zumeist Frauen. Unter ihnen ist Abshiro Said. Die 19-Jährige hatte im sechsten Monat eine Fehlgeburt. Ihre eineinhalb Grundnahrungsmittel wie Mehl, Speiseöl und Kleidung.
Viele Preise sind im Vergleich zum Vorjahr um 30 bis 50 Prozent gestiegen, erzählt Abshiro Abdi Rahman hinter der Theke ihres kleinen Ladens in Usguro. Vor etwa zwei Monaten habe sie das letzte Mal Fleisch gegessen, erinnert sie sich. Ziegenfleisch sei es gewesen. Jetzt gibt es höchstens Dosenthunfisch aus Thailand als Ersatz. Ein Dollar für 90 Gramm. Mit den Schulgebühren für ihre sieben Kinder sei sie zwei Monate im Rückstand. „Zu Beginn haben wir sie unterstützt, so gut wir konnten“, meint Rahman über das Verhältnis zu den Binnenflüchtlingen. „Jetzt haben wir die gleiche Stufe erreicht.“Zu den jüngsten Bewohnern im Zeltlager ein paar hundert Meter weiter zählt der erst fünf Tage alte Sohn von Muhubo Ahmed Jama. „Ich habe nicht genug Milch zum Stillen.“Nur vier ihrer einstmals 400 Ziegen sind noch am Leben. Der Rest sei verhungert oder verdurstet. Sie hat Kopfweh, Durchfall und muss sich erbrechen. Medizinische Versorgung gibt es hier keine. Darüber klagt auch Hadima Elmi El Salah ein paar Zelte weiter. Zwei ihrer Enkelkinder seien abgemagert und krank. Ihre Mutter habe die Kleinen ins 160 Kilometer entfernte Krankenhaus nach Garowe gebracht.
Dort sitzt Haua Yussuf Ali mit ihren Töchtern auf einem Bett in der Spezialabteilung für Mangel- und Reis, Unterernährung. Das Zentrum wurde 2016 errichtet, geleitet von den Organisationen Save the Children und World Vision. Besonders der dreijährigen Hamdi geht es schlecht. Als sie vor Schwäche einschläft, sieht man das Weiß ihrer nach hinten gerollten Augen. Hamdi atmet flach und schnell. Vor einigen Wochen hatten Nachbarn sie hergebracht. Und wieder zurück nach Usguro, immer noch krank. Dann ging es auch der sechs Monate alten Fatima schlecht. Auch sie muss erbrechen, hatte Durchfall. Infusionen sollen sie nun am Leben erhalten. Die Mutter versucht, den Kindern noch etwas Milch zu geben. El Salahs Familie hat 200 Ziegen und 50 Kamele verloren. Das Gesicht der über 70-Jährigen leuchtet kurz auf, als sie vom Leben der Nomaden erzählt, von Zeiten, als die Tiere noch Nachwuchs bekamen. Eine Kamelgeburt gab es in ihrer Herde zuletzt vor „drei Gu“, also vor drei Jahren.
Gu heißt die große Regenzeit, die im April beginnen sollte. Die Prognosen geben wenig Grund zur Hoffnung. „Wegen des Klimawandels haben wir fast fortwährend eine Dürre“, erklärt Vizepräsident Omar. Seit Februar 2016 bitte er die internationale Gemeinschaft um Hilfe. Allein könne Somalia die Krise nicht bewältigen. Für den Hilfseinsatz in Somalia sind den UN zufolge in diesem Jahr 864 Millionen Dollar (rund 814 Millionen Euro) nötig. Nur etwa sechs Prozent stehen bisher zur Verfügung. Nötig sei rasche Soforthilfe, auch um Nutztiere am Leben zu erhalten, mahnt der UN-Sonderbeauftragte für Somalia, Peter de Clerq. Ansonsten gehe es bald nur mehr darum, Menschen vor dem Hungertod zu retten. „In einem solchen Fall wird es weitaus länger dauern, bis die Menschen zu einem normalen Leben zurückfinden.“Die jüngsten Warnungen vor einer Hungersnot hat die internationale Gemeinschaft wach gerüttelt.
Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sagte ostafrikanischen Ländern am Freitag 100 Millionen Euro Hilfe zu. „Wir müssen die Menschen langfristig vor den Auswirkungen