Neu-Ulmer Zeitung

Welche EU wollt ihr haben?

In wenigen Tagen kommt der Scheidungs­antrag aus Großbritan­nien. Für die Zeit danach muss sich Brüssel neu aufstellen. Kommission­spräsident Juncker prescht mit einem Weißbuch vor. Es enthält mehr Fragen als Antworten

- VON DETLEF DREWES

Jean-Claude Juncker gab sich herzlich. Es gehe darum, das „Ehegelöbni­s zu erneuern“, sagte der Präsident der EU-Kommission, als er gestern im EU-Parlament in Brüssel sein jüngstes Werk vorstellte: ein sogenannte­s Weißbuch. Darin seine Vorstellun­gen von der Zukunft der EU nach dem Brexit.

„Ich will nicht, dass ihr Bürokraten das macht“, habe er seinem Stab gesagt, als er sich mit zwei Beratern vor einem Monat zurückzog, um einen großen Entwurf über die Union mit 27 statt bisher 28 Mitglieder­n niederzusc­hreiben. Fünf Szenarien beschreibe­n nun, wie es der EU ergehen könnte, wenn sie weitermach­t wie bisher, wenn sie sich auf den Binnenmark­t konzentrie­rt, wenn sie ein Europa der unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten zulässt, wenn sie sich mit mehr Effizienz auf weniger Bereiche konzentrie­rt oder wenn sie sich zu „viel mehr gemeinsame­m Handeln“entschließ­t.

Nach konkreten Vorschläge­n oder Ideen sucht man vergeblich. Stattdesse­n beschränkt sich der Kommission­spräsident auf lediglich angerissen­e Auswirkung­en im Jahr 2025, die der Bürger zu spüren bekommen würde. Drei Beispiele: ● Wenn die EU sich nur auf ein „Weiter so“verständig­e, werden die Europäer zwar bald in vernetzten, selbstfahr­enden Autos unterwegs sein, aber an vielen Grenzüberg­ängen stoppen müssen. ● Sollte sich die Gemeinscha­ft auf den Binnenmark­t konzentrie­ren, müsse derjenige, der im Ausland krank wird, mit hohen Behandlung­skosten rechnen. ● Wenn sich die 27 Regierunge­n aber entschließ­en, gemeinsam mehr Europa zu wagen, würden viele Probleme und Herausford­erungen europäisch und für alle gelöst: Vernetzte Autos können quer durch Europa unterwegs sein, weil überall die gleichen Regeln gelten.

Das sei ein „Sammelsuri­um“, kommentier­te der FDP-Europaabge­ordnete Alexander Graf Lambsdorff das Juncker-Papier. Der Kommission­schef habe sich bemüht, auf jeden Mitgliedst­aat zuzugehen, heißt es hinter den Kulissen. Um Streit zu vermeiden.

Doch im Hintergrun­d toben Machtkämpf­e. Bundeskanz­lerin Angela Merkel, so wird kolportier­t, sei strikt dagegen gewesen, dass Juncker ein Weißbuch herausgibt. Sie sieht die Rolle der Kommission deutlich anders als deren Präsident. Juncker will regieren, Merkel möchte genau das verhindern. Dabei geht es nicht nur um einen Krach zwischen Personen und Institutio­nen, sondern auch um die Sache. Längst wird in vielen Hauptstädt­en darüber nachgedach­t, ob die penible Harmonisie­rung jedes noch so kleinen Details auf dem Binnenmark­t wirklich nötig ist. Brüssels Bürokratie könne man durchaus „verschlank­en, ohne den gemeinsame­n Markt zu riskieren“, heißt es in Berliner Regierungs­kreisen.

Die EU steht massiv unter Druck. Mitte März wird in Brüssel der Scheidungs­brief aus London erwartet. Nur wenige Tage später (am 25. März) treffen sich die Staats- und Regierungs­chefs in Rom, um feierlich des 60. Jahrestage­s der Unterzeich­nung der Römischen Verträge zu gedenken. Doch von der geplanten feierliche­n Erklärung, die dort verabschie­det wird und ein trotziges Bekenntnis zur Union enthalten soll, steht bisher keine Zeile.

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Foto: John Thys, dpa Im Europäisch­en Parlament präsentier­te Jean Claude Juncker sein Weißbuch über die künftige Entwicklun­g der EU. Kritiker sa gen, er sei vor allem einem möglichen Streit aus dem Weg gegangen.

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