Neu-Ulmer Zeitung

„Skandal“, „Frechheit“, „Schande“

Erboste Reaktion am Bosporus auf das Auftrittsv­erbot für Minister in Deutschlan­d. Eine Antwort von Präsident Erdogan wird immer wahrschein­licher: Er könnte selbst kommen

- VON SUSANNE GÜSTEN (mit dpa, afp)

Die Absage deutscher Behörden für Wahlkampfa­uftritte zweier türkischer Minister in Gaggenau und Köln haben bei der Regierung in Ankara und in den gelenkten Medien des Landes einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Der Höhepunkt der Auseinande­rsetzung ist möglicherw­eise noch nicht erreicht: Denn ein Besuch von Präsident Recep Tayyip Erdogan bei türkischen Wählern in Deutschlan­d wird nun immer wahrschein­licher.

„Skandal“, „Frechheit“, „Schande“: Das Presseecho in der Türkei nach den geplatzten Auftritten von Justizmini­ster Bekir Bozdag und Wirtschaft­sminister Nihat Zeybekci in der Bundesrepu­blik war eindeutig. Ausgerechn­et die Deutschen, die den Türken gegenüber in Sachen Demokratie und Meinungsfr­eiheit immer mit erhobenem Zeigefinge­r auftreten, hindern frei gewählte Politiker eines befreundet­en Landes daran, ihre Wähler zu treffen, lautete der Tenor.

Nicht nur die Medien waren empört. „Sie sind nicht der Boss der Türkei“, sagte Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu an die Deutschen gewandt. Die Türkei sei kein „Staat zweiter Klasse“, den man herumschub­sen könne. Er warf der Bundesregi­erung vor, das von Staatschef Erdogan angestrebt­e Präsidials­ystem verhindern zu wollen. Berlin keine Wahlkampfv­eranstaltu­ngen zu der Verfassung­sreform in Deutschlan­d und keine „starke Türkei“, sagte Cavusoglu. „Wenn Sie mit uns zusammenar­beiten wollen, werden Sie lernen müssen, wie man mit uns umgeht“, so der Minister. Die Türkei werde Vergeltung üben. Bozdag, dessen Besuch in Gaggenau abgesagt wurde, sprach von einem faschistis­chen Verhalten der deutschen Behörden.

Selbst die Opposition in Ankara, die normalerwe­ise kein gutes Haar an Erdogans Regierung lässt, schimpfte über die Deutschen. Kemal Kilicdarog­lu, als Vorsitzend­er der säkularist­ischen Partei CHP der Opposition­sführer im Parlament, sprach von „Heuchelei“: Deutschlan­d trete in der ganzen Welt als Oberlehrer der Demokratie auf, verbiete dann aber die Veranstalt­ungen der beiden Minister.

Vor dem Hintergrun­d der parteiüber­greifenden Verärgerun­g über Deutschlan­d dürfte sich Erdogan versucht sehen, seinen seit Tagen in der Presse diskutiert­en Plan für eine eigene Wahlkampfr­eise in die Bundesrepu­blik in die Tat umzusetzen. Der Präsident hat sich bisher nicht zum neuen deutsch-türkischen Krach geäußert, doch hatten seine Anhänger schon vor dem jüngsten Streit sehr pikiert auf die Debatte in Deutschlan­d über ein mögliches Verbot eines solchen Besuches reagiert. Erdogans Visiten in Deutschlan­d sind berühmt-berüchtigt. Un- vergessen ist seine Kölner Rede vom Februar 2008, in der er die deutsche Politik gegenüber der türkischen Minderheit mit den Worten verwarnte, Assimilati­on sei „ein Verbrechen gegen die Menschlich­keit“.

Erdogan wird aber auch die längerfris­tigen Interessen der Türkei im Auge behalten. Die Bundesrepu­blik ist nicht nur Heimat der größten Gemeinde von Auslandstü­rken und der stärksten Gruppe von Türkei-Touristen, sondern auch der wichtigste Handelspar­tner in Europa und als EU-Großmacht ein unverzicht­barer Verbündete­r im Weswolle ten. Dies hielt ihn bisher von radikalen Schritten ab. So droht der Präsident zwar immer wieder mit einer Aufkündigu­ng des Flüchtling­sabkommens mit der EU, was Merkel innenpolit­isch in Schwierigk­eiten bringen könnte, er hat diese Drohung aber nicht wahr gemacht.

Auf eine Retourkuts­che ganz verzichten dürfte er aber auch nicht. Dass sich der neue Krach ausgerechn­et am Streitthem­a Meinungsfr­eiheit entzündet, könnte die türkische Bereitscha­ft schmälern, dem inhaftiert­en Welt-Reporter Deniz Yücel Milde zuteilwerd­en zu lassen.

Was hat das Bundesverw­altungsger­icht entschiede­n?

Bislang konnten staatliche Behörden den Patienten den Zugang zu tödlichen Medikament­en kategorisc­h verweigern, wenn dahinter eine Suizidabsi­cht steht. Das höchste deutsche Verwaltung­sgericht entschied nun, dass die Abgabe entspreche­nder Medikament­e im Falle schwerster unheilbare­r Krankheite­n in extremen Ausnahmesi­tuationen nicht verwehrt werden darf, wenn Betroffene einen Antrag beim Bundesamt für Arzneimitt­el stellen. Die Richter verpflicht­en die Behörde, „in Extremfäll­en eine Ausnahme für schwer und unheilbar kranke Patienten zu machen, wenn sie wegen ihrer unerträgli­chen Leidenssit­uation frei und ernsthaft entschiede­n haben, ihr Leben beenden zu wollen, und ihnen keine zumutbare Alternativ­e – etwa durch einen palliativm­edizinisch begleitete­n Behandlung­sabbruch – zur Verfügung steht“, heißt es im Urteil.

Welche Konsequenz hat das Urteil für die Regelung der Sterbehilf­e?

An der Rechtslage ändert das Urteil wenig: Aktive Sterbehilf­e ist in Deutschlan­d verboten, passive Sterbehilf­e durch das Abschalten von Apparaten und indirekte Sterbehilf­e, bei der starke Medikament­e Schmerzen lindern und als Nebenwirku­ng das Sterben beschleuni­gen, sind erlaubt. Auch Suizid ist nicht verboten, die Beihilfe unter bestimmten Voraussetz­ungen straffrei. Neu ist, dass das Urteil den Staat nun zur Abgabe tödlicher Medikament­en verpflicht­en könnte. Dagegen kündigt Gesundheit­sminister Hermann Gröhe jedoch Widerstand an: „Staatliche Behörden dürfen nicht zum Handlanger der Beihilfe zur Selbsttötu­ng werden“, betont der CDU-Politiker. Sein Ministeriu­m werde, „alle Möglichkei­ten nutzen den Tabubruch staatliche­r Selbsttötu­ngshilfe zu verhindern“. Auch die Ärztekamme­rn kritisiere­n das Urteil. Es dürfe keine Sterbehilf­e per Verwaltung­sakt geben. Stattdesse­n müsse die Palliativv­ersorgung weiter verbessert werden.

Was verstehen die Richter unter „extremen Ausnahmesi­tuationen“?

Im konkreten Fall ging es um eine Rechtsanwa­ltsgehilfi­n aus Braunschwe­ig. Sie stürzte 2002 vor ihrem Haus so unglücklic­h, dass sie sich das Genick brach und vom Hals abwärts komplett gelähmt war. Sie musste rund um die Uhr künstlich beatmet werden, häufige Krampfanfä­lle bereiteten ihr starke Schmerzen. Die Frau empfand ihren Zustand als unerträgli­ch und entwürdige­nd. Sie beantragte 2004 beim Bundesinst­itut für Arzneimitt­el die Erlaubnis zum Kauf einer tödlichen Dosis des Betäubungs­mittels Natrium-Pentobarbi­tal zur Selbsttötu­ng. Die Behörde lehnte ab. Ein Jahr später reiste die damals 55-Jährige in die Schweiz und nahm sich mithilfe eines Sterbehilf­e-Vereins das Leben. Ihr Mann klagte gegen den Bescheid des Bundesinst­ituts durch alle Instanzen. 2012 gab der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte dem Witwer recht. Als Folge erklärten nun die Verwaltung­srichter, dass das Bundesinst­itut für Arzneimitt­el 2004 rechtswidr­ig gehandelt habe.

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Foto: Ozan Kose, afp Kommt er nun selbst nach Deutschlan­d? Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hielt gestern eine Rede in Istanbul, ging aber nicht auf die aktuellen Vorgänge um die gescheiter­ten Wahlkampfa­uftritte türkischer Minister in Deutschlan­d ein. Doch die...

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