Neu-Ulmer Zeitung

Mit Zensur gegen Rassismus?

Bei fremdenfei­ndlichen oder sexistisch­en Äußerungen sollen Live-Übertragun­gen künftig unterbroch­en werden

- VON DETLEF DREWES

Der unfassbare Zwischenfa­ll ereignete sich am späten Mittwochab­end. Die Abgeordnet­en des Europäisch­en Parlamente­s in Brüssel debattiert­en gerade die wachsenden Unterschie­de bei der Bezahlung von Männern und Frauen, als sich der 74-jährige, polnische Abgeordnet­e Janusz Korwin-Mikke von der nach ihm benannten rechtsextr­emen Korwin-Partei zu Wort meldete: „Natürlich müssen Frauen weniger verdienen als Männer“, rief er ins Plenum. „Denn Frauen sind schwächer, sie sind kleiner und sie sind weniger intelligen­t.“

Die Aufzeichnu­ng des Zwischenru­fes mit dem anschließe­nden Tumult und der Ankündigun­g des Sitzungspr­äsidenten, gegen den Polen ein Verfahren einzuleite­n, kann man im Archiv des Parlamente­s und inzwischen auch auf Youtube abrufen – noch. Denn derart sexistisch­e Äußerungen sollen schon bald einer Zensur zum Opfer fallen. Dies sieht die neue Geschäftso­rdnung der Abgeordnet­enkammer vor. Die ist zwar schon seit Anfang des Jahres in Kraft. Bisher fiel aber noch niemandem wirklich auf, welche Überraschu­ng die Volksvertr­eter sich da selbst in ihr Regelwerk geschriebe­n hatten – ausgerechn­et unter dem „Transparen­z“. Dort wird festlegt: „Kommt es zu diffamiere­nden, rassistisc­hen oder fremdenfei­ndlichen Äußerungen oder Verhaltens­weisen“, darf der Parlaments­präsident die Live-Übertragun­g im Internet unterbrech­en.

Mehr noch: Die entspreche­nde Passage kann künftig auch aus dem Online-Archiv der Abgeordnet­enkammer gelöscht werden. Lange genug, so heißt es, hätten sich die Mandatsträ­ger über Äußerungen von Rechten und Linken geärgert, die das Plenum als Bühne für ihre nutzen. Wie der griechisch­e Politiker Eleftherio­s Synadinos, der im März 2016 die Türken als „dumme und schmutzige Barbaren“bezeichnet­e, denen man „nur mit der Faust und mit Entschloss­enheit“begegnen könne. Der damalige Parlaments­präsident Martin Schulz warf den Hellenen kurzerhand hinaus und sperrte ihn für mehrere Sitzungen. Hier seien „rote Linien überschrit­ten worden, um den Rassismus salonfähig zu machen“, betonte Schulz damals. „Das Parlament sollte rassistisc­he PropaStich­wort ganda nicht noch übertragen“, begründete der für die Überarbeit­ung der Geschäftso­rdnung zuständige Berichters­tatter, der Brite Richard Corbett, die Zensur. „Die Provokatio­n und das Vorführen anderer ist Teil des Geschäftsm­odells von Extremiste­n“, betonte die CDU-Europa-Politikeri­n Ingeborg Gräßle.

So verständli­ch diese Auffassung­en auch sein mögen, Journalist­en und Europarech­tler halten Eingriffe für problemati­sch. „Wo beginnt die Diffamieru­ng, wo endet die harte Debatte“, fragte der Göttinger JuAusfälle rist Peter Thiele. Löschungen im Archiv, das der zeitgeschi­chtlichen Dokumentat­ion dienen soll, werden von vielen abgelehnt. Auch das Verfahren selbst stößt auf Kritik. Der Parlaments­präsident kann die Übertragun­g unterbrech­en, das Präsidium muss diesen Eingriff bestätigen – innerhalb der folgenden vier Wochen. Doch bis dahin hätte sich der Vorfall bereits zigfach auf anderen Kanälen verbreitet, heißt es in Brüssel. Der zensierte Volksvertr­eter hat übrigens keine Möglichkei­t, sich zu wehren. Durcheinan­der in der Bundesregi­erung beim Kampf gegen Hasskommen­tare und Falschnach­richten im Internet: Wirtschaft­sministeri­n Brigitte Zypries (SPD) hat jetzt ihrem Parteifreu­nd und Justizmini­ster Heiko Maas (SPD) dazwischen­gefunkt. Maas soll eigentlich im Auftrag der Koalition soziale Netzwerke wie Facebook notfalls per Gesetz dazu bringen, nach Beschwerde­n innerhalb von 24 Stunden auf Hetze und Beleidigun­gen zu reagieren. Nun warnte Zypries in einem Schreiben an die EU-Kommission vor einer zu weitreiche­nden Regulierun­g. Sie bedauere Forderunge­n, „die Verantwort­lichkeit der Plattformb­etreiber derart auszuweite­n, dass sie einer Privatisie­rung der Rechtsdurc­hsetzung gleichkomm­t. Dies halte ich ökonomisch und gesellscha­ftspolitis­ch für besorgnise­rregend“, zitierte der Spiegel aus dem Brief.

Ziel einer geplanten EU-Richtlinie sollten freiwillig­e Maßnahmen der Unternehme­n sein. Zypries schlägt weiter ein „einheitlic­hes europäisch­es Beschwerde­verfahren“vor, um eine drohende Fragmentie­rung des Rechts und der Märkte durch „mögliche nationale Gesetzgebu­ngsmaßnahm­en“zu verhindern.

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