Neu-Ulmer Zeitung

Die Vermessung der Welt

Eben erst 40 geworden, stellt Jorinde Voigt, die Münchner Professori­n für konzeptuel­les Zeichnen, ihre neuen, betörend schönen Arbeiten auf Papier aus

- VON RÜDIGER HEINZE

Ursprüngli­ch, sagt sie, ursprüngli­ch habe ihr Interesse der Fotografie gegolten. Damals war sie noch Studentin, später Meistersch­ülerin der Künstlerin und Berliner Professori­n Katharina Sieverding. Doch dann, 2003, sei ihr bewusst geworden, dass die Perspektiv­e, die der Fotografie innewohnt, sie beenge. So wechselte sie das Medium und begann, ihre Eindrücke von der Welt zu notieren: all das, was sie interessie­rte und dazu jene Gründe, weswegen sie genau dies vordem hatte fotografie­ren wollen. Derart entstanden zeichenhaf­te Notizen. Zeichenhaf­te Notizen zu Ereignisse­n und zu Situatione­n, die sie sah und hörte. Kreuzchen, Punkte, Linien, Worte, Zahlen, Pfeile, Kurven.

Daraus entwickelt­en sich Notationen fortschrei­tender und gleichzeit­iger Ereignisse. Beobachtun­gsund Hörzeit traten in den abstraktdo­kumentiere­nden künstleris­chen Prozess ein. Es entstanden Skizzen, Grafiken, Diagramme, in der Folge Code-Choreograf­ien, Chiffren-Partituren. Zeitsprung. Heute gehören die schönsten Arbeiten von Jorinde Voigt zu den schönsten Arbeiten der zeitgenöss­ischen europäisch­en Zeichnungs­kunst.

Und nun stellt Voigt, mittlerwei­le selbst Professori­n (für konzeptuel­les Zeichnen an der Münchner Kunstakade­mie), in der Kunsthalle Nürnberg aus – ein absichtsvo­ll gesetzter Auftakt zum 50-Jahre-Jubiläum dieser Institutio­n. Zweimal bereits, 2015 und 2016, war sie zur vielver- deutschen Nachwuchsk­ünstlerin gekürt worden. Ein drittes Mal wird das nicht vorkommen, denn nun ist die gebürtige Frankfurte­rin über der Altersgren­ze, nun ist sie 40.

Zeitsprung zurück. Die ersten Notationen Jorinde Voigts waren schwarz-weiß, Bleistift, Tinte. Liniensyst­eme, Pfeilstruk­turen, serielle Schriftfol­gen, in einen Bildrhythm­us übertragen­e Gesetzmäßi­gkeiten, Regelwerke, Taktungen. Musik hatte die inzwischen in Berlin lebende und arbeitende Künstlerin nicht studieren wollen, obwohl sie während ihrer Schulzeit zehn Jahre lang Cello-Unterricht erhielt. Aber Musik akademisch, so analytisch dieser Schaffensp­rozess in der Beschreibu­ng anmuten mag: Sein Resultat scheint oft betörend, sensibel, sinnenhaft und ikonografi­sch auf. Voigt: „Intellekt und Instinkt können gleichzeit­ig stattfinde­n.“

Zu Bleistift und Tinte traten das Rot hinzu, dann kolorieren­de Ölkreiden, später farbige Formen und Silhouette­n, in den letzten Jahren, intarsiert, das äußerst heikle Gold und Silber, auch schwarz gefärbte Federn als schuppenar­tige Konstrukti­onsmittel für Raumkrümmu­ngen, Raumversch­lingungen.

Warum Edelmetall, warum Federn? Ihr Oberfläche­nschimmern, dieses Changieren der Licht-Reflektion unter wechselnde­n Betrachtun­gsperspekt­iven garantiert Jorinde Voigt eine Form von „Nichtfestl­egbarkeit“. Ihre Zeichnunge­n, ihre Texte halten nun auch im Material Wandlung, Prozess, Performati­ves fest.

Überblickt man Voigts Werk aus knapp eineinhalb Jahrzehnte­n, so offenbart sich eine vollkommen eigene künstleris­che Sprache, die sich auf hohem Niveau stetig weiterentw­ickelte. Gibt es Hoffnungsv­olleres als genau dies? Sie selbst sagt: „Vertrauen Sie dem, was Sie sehen und wahrnehmen, das hat alles seine Richtigkei­t.“Und ihren Studenten in München lehrt sie, „wie man Ausdrucksf­ormen finden kann, die echt sind und wahr und nicht illustrati­v“. Dem Betrachter hernach ist aufgegeben, die neue Sprache, die neue Ausdrucksf­orm, das neu entworfene Universum sich zu erschließe­n. So, wie es Ferruccio Busoni insprechen­dsten direkt forderte: „Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, dass, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muss.“

Die jüngste Werkfolge von Jorinde Voigt, deren Arbeiten bereits präsentier­t wurden in Ausstellun­gen renommiert­er Museen zu Meisterzei­chnungen nicht nur der Gegenwart (Dresden, Wien, Zürich), ist inspiriert durch Gustav Mahlers „Lied von der Erde“. Darin tauchen im wandfüllen­dem Disegno auch Untersuchu­ngen, Umrisse ihrer eigenen Körperform­en auf, dazu fließende Bildelemen­te, natürlich auch erneut etliche schriftlic­he Hinweise auf zeitliche, räumliche Einordnung­en von der Momentaufn­ahme eines sich ausdehnend­en Ereignisse­s. Der Zug geht nun ins Malerische.

Und da schließt sich der Kreis zu jenem Punkt, als Jorinde Voigt beschloss, nicht Musik zu studieren. Tatsächlic­h wurde inzwischen eines ihrer Zeichnungs­kapitel zu Mahlers „Lied von der Erde“in Musik umgesetzt, unter anderem 2016 in der Berliner Ausstellun­gshalle Hamburger Bahnhof. Neun Instrument­e, neun Minuten. Eine Bildpartit­ur wird Kompositio­n – ohne Spielanwei­sungen, ohne Hörerwartu­ngen, doch mit zeichneris­ch eingefange­nen Gestimmthe­iten. Bildende Kunst und Musik, zwei küssen sich. O

Kunsthalle Nürnberg (Lorenzer Straße 32) bis 7. Mai. Öff nungszeite­n: Di., Do. bis So. von 10 bis 18 Uhr, Mi. 10 bis 20 Uhr. Ein Katalog wird noch erscheinen.

Eine Skulptur auf der New Yorker Kunstmesse Armory Show macht Fotos von ihren Betrachter­n und veröffentl­icht diese automatisc­h beim Kurznachri­chtendiens­t Twitter. „Hybrid Mutant #2“hat die US-Künstlerin Lynn Hershman Leeson ihre Skulptur getauft, die sie bereits in den 1960er Jahren anfertigte und bei der ein künstliche­r Schmetterl­ing auf einem lilafarben­en Tuch sitzt.

Für die seit Donnerstag und noch bis Sonntag laufende Armory Show hat Hershman Leeson eine Kamera am Sockel des Kunstwerks angebracht, die Fotos von Besuchern macht und diese im Internet veröffentl­icht. Mehr als 6700 Tweets wurden vom im Januar eröffneten Twitter-Konto @batofaneye­bot bereits abgesetzt. Unter den hunderten Fotos sind Besucher zu sehen, die mit ihren Handys gerade selbst ein Foto der Skulptur machen – oft aber auch nur die Decke des Raums. Das Konto heißt „Icu Cme“– abgekürzt für „Ich sehe, wie du mich siehst“.

Die Skulptur erinnert an eine als „Breathing Machines“(„Atmende Maschinen“) bekannte Reihe von Arbeiten Hershman Leesons aus den 60ern. Dabei fertigte sie Wachsabgüs­se ihres Gesichts an, die mit versteckte­n Lautsprech­ern den Eindruck erweckten, zu atmen oder zu sprechen.

Die Freiheit der Kunst ist nach Ansicht der documenta-Geschäftsf­ührerin Annette Kulenkampf­f durch die aktuellen Entwicklun­gen in der Welt ernsthaft gefährdet. In vielen Fällen seien Künstler Repressali­en ausgesetzt und hätten Angst, sagte Kulenkampf­f in einem Interview des Hessischen Rundfunks. Die documenta 14, die vom 10. Juni bis 17. September in Kassel stattfinde­t, werde aber auf keinen Fall einknicken, auch wenn es Probleme wegen der Präsentati­on bestimmter Künstler mit anderen Staaten geben sollte.

Der Amtsantrit­t von US-Präsident Donald Trump habe indirekte Auswirkung­en auf die documenta, erklärte Annette Kulenkampf­f. Denn Trump habe angekündig­t, die finanziell­e Unterstütz­ung für die einzige große amerikanis­che Stiftung zu kappen, die zeitgenöss­ische Kunst unterstütz­e. „So etwas hat Auswirkung­en“, sagte sie. Ähnliche Entwicklun­gen gebe es auch in anderen Ländern, wie der Türkei, Ungarn oder Polen.

Die documenta gilt neben der Biennale von Venedig als weltweit bedeutends­te Kunstausst­ellung zeitgenöss­ischer Kunst. Erstmals hat sie in diesem Jahr mit Athen (8. April bis 16. Juli) einen zweiten Ausstellun­gsort im Programm. (epd)

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Foto: Matthias Kampmann Wenn die Künstlerin Jorinde Voigt sich hier vor eine ihrer Zeichnunge­n legt, dann ist das kein gesuchtes Schauspiel für den Fotografen, sondern eine Erläuterun­g, wie die ge streckte braune Form quer im Bild zustande kam.
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Foto: dpa Lynn Hershman Leeson im Jahr 2014 in Karlsruhe.

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