Der Fortschritt bringt die Umwälzung – aber wohin?
Systems und zu Umwälzungen der Gesellschaft kommt. Und entscheidend dafür ist die wirtschaftliche Entwicklung und eben dabei der technische Fortschritt. So sieht Marx im Aufkommen des Kapitalismus ja zuallererst auch eine Befreiung aus der ständischen Gesellschaft – die nur möglich war durch die Errungenschaft der Dampfmaschine. Denn durch eine Entwicklung wie diese stiegen plötzlich die Produktionskräfte an, und diese sorgten für Druck auf die Produktionsverhältnisse und dadurch auch den gesellschaftlichen Überbau. Das heißt: Zunächst sprengen die neuen Möglichkeiten die Formen, in denen das wirtschaftliche Leben bis dahin in einer Gesellschaft organisiert ist, sie verlangen etwa nach einem anderen Unternehmertum – und ist diese Dynamik groß genug, muss sich auch die juristische und politische Struktur ändern. Rein funktional gedacht. Um die gesellschaftlichen Unwuchten in ein neues, produktives Gleichgewicht zu bringen.
Und so hatte Marx es dann auch auf den Kapitalismus übertragen, hier ausgelöst durch die industrielle Revolution. Denn auch hier führte ja der Fortschritt zu einem dramatischen Anstieg der Produktivkräfte – mussten also nicht die nächsten Umwälzungen folgen? Die Hoffnung, von der seine Analyse dabei getragen war: Dass diese Umwälzungen wie im Fall der Auflösung der Ständegesellschaft zu einer immer breiteren Teilhabe der Menschen am wirtschaftlichen Fortschritt führen sollte. Auch, weil das immer breiter erwachende Bewusstsein der Bürger danach verlange und die neuen Unwuchten erkenne. Denn der Mensch und sein Bewusstsein ist nach Marx ja Produkt der Verhältnisse. Wohl träumte Marx dadurch von einer schlussendlichen Reife der Menschen und Gesellschaften für den Kommunismus, dank des Fortschritts. Aber die tatsächlich gravierenden Unsicherheiten und Umwälzungen, die auf die industrielle Revolution schließlich folgten, waren Weltkriege und Diktatur.
Hatte Marx also Unrecht? Trotz einiger Belebungsversuche etwa durch die 68er schien er nach der deutschen Wiedervereinigung beerdigt: Der US-Ökonom Francis Fukuyama rief „Das Ende der Geschichte“aus – denn hatte nicht der Siegeszug des in der Demokratie eingehegten Kapitalismus gezeigt, dass Teilhabe durch ein Wachstum ohne Grenzen am besten durch dieses eine System zu gewährleisten war? Zwar gab es Ungleichheit, aber als Motor der Entwicklung – während Marx glaubte, immer größerer Reichtum weniger Kapitalisten müsse bei weiterem Fortschritt zu neuen Umwälzungen führen.
Heute, 25 Jahre nach dem vermeintlichen Ende der Geschichte, in Zeiten des nächsten großen Fortschritts, der nächsten industriellen Revolution, digital und global – wirken diese Gewissheiten noch immer so unumstößlich? Denn damit sind wir wieder bei den ersten vier Fragen. Mit Marx unsere Gegenwart lesend könnte man sagen: Wir erleben nicht nur einen dramatischen Wandel der Produktivkräfte, sondern ja auch bereits der Produktionsverhältnisse; ein Hybrid aus Internetund Finanzkapitalismus überlagert die bisherigen Ordnungen des Wirtschaftens zusehends und generiert dabei ganz neuen Wohlstand; ist die Dynamik groß genug, dass im gesellschaftlichen Überbau Druck zu Umwälzungen entsteht? Wenn Sie alle vier ersten Fragen mit Ja beantwortet haben, hegen Sie zumindest gravierende Zweifel an der Stabilität der so lange unverbrüchlich scheinenden Verbindung zwischen Kapitalismus und Demokratie. Für dieses Unbehagen muss heute niemand Marxist sein, es kommt von links wie rechts – und auch aus der Mitte.
Damit stellt sich heute eine Frage im Angesicht der Geschichte wieder: Wird der technische Fortschritt diesmal zu einer breiteren Form der Teilhabe führen? Oder ins Autoritäre? Denn hier irrte Marx: Der Kapitalismus ist sehr wandlungsfähig, mit ihm ist all das zu machen. Mit der Demokratie aber nicht. Es bleibt wohl wirklich eine Frage des Bewusstseins. Für Marx aber bildete sich dieses automatisch aus den Lebensverhältnissen – für uns dagegen bleibt offen, was sich ergibt aus jenen ersten vier Fragen.