Neu-Ulmer Zeitung

Grenzübers­chreitunge­n

Der türkische Außenminis­ter will in den Niederland­en Wahlkampf machen. Er darf mit dem Flugzeug nicht landen. Die Familienmi­nisterin kommt daraufhin mit dem Auto. Sie wird aus dem Land geworfen. Der Streit eskaliert – inklusive Nazi-Beschimpfu­ngen und wüs

- VON DETLEF DREWES

Kein Drehbuch-Autor hätte es gewagt, sich die Szenen dieser Nacht von Samstag auf Sonntag auszudenke­n. Als überzogen und unglaublic­h wäre die Film-Vorlage abgeschmet­tert worden. Doch tatsächlic­h spielte sich an diesem Wochenende auf den Straßen im deutsch-niederländ­ischen Grenzgebie­t ein Polit-Krimi ab, der seinesglei­chen in der jüngeren europäisch­en Geschichte sucht.

Der Eklat beginnt schon am Samstagnac­hmittag. Der türkische Außenminis­ter Mevlut Cavusoglu befindet sich an Bord eines Flugzeuges seiner Regierung auf dem Anflug nach Rotterdam. Grund der Reise: eine Rede im Vorfeld der Abstimmung über ein neues, radikales Präsidials­ystem in der Türkei am 16. April. Doch dazu kommt es nicht. Die Behörden verweigern der rechten Hand von Premiermin­ister Binali Yildirim die Landeerlau­bnis.

Mark Rutte, der niederländ­ische Regierungs­chef, übernimmt höchstpers­önlich die Begründung: „Sicherheit­sbedenken. Ein Auftritt würde die Spannungen erhöhen.“Daraufhin rastet Cavusoglu, der im Rotterdame­r Konsulat seines Landes vor geladenen Gästen reden wollte, völlig aus. Wieder einmal, muss man ergänzen. „Wenn sich Spannungen erhöhen, na und? Ich bin Außenminis­ter. Ich kann gehen, wohin ich will.“

er nicht. Stattdesse­n fliegt er gleich nach Frankreich weiter, wo er am Sonntagabe­nd sprechen wollte – ohne Einwände offizielle­r Stellen. Doch dies ist nur der Auftakt für die Eskalation. Nachdem der Außenminis­ter solche Schwierigk­eiten hatte, entscheide­t sich die türkische Familienmi­nisterin Fatma Betül Sayan Kaya, die ebenfalls auf dem Weg nach Rotterdam ist, ins Auto umzusteige­n. Was nun folgt, kannte man bis dahin nur aus Filmen oder von Dienstreis­en des amerikanis­chen Niederland­en. In Ankara verliert Präsident Recep Tayyip Erdogan völlig die Beherrschu­ng und schlägt verbal um sich: „Das sind Nachfahren der Nazis, das sind Faschisten.“Rutte kontert: „Dies ist verrückt.“Der Staatspräs­ident legt am Sonntag nach: „Die Niederland­e werden den Preis dafür bezahlen.“

Währenddes­sen telefonier­t Rutte innerhalb mehrerer Stunden acht Mal mit seinem türkischen Amtskolleg­en Yildirim und kommt schließlic­h zu dem Entschluss: „Die Suche nach einer angemessen­en Lösung erwies sich als unmöglich. Die verbalen Angriffe von türkischen Behörden, die daraufhin erfolgten, sind inakzeptab­el.“Wenig später erklärt er die Familienmi­nisterin aus Ankara zur „Persona non grata“(unerwünsch­ten Person). Unter den Augen der Polizei besteigt Kaya ein anderes Fahrzeug. Die Wagenkolon­ne, dieses Mal von den niederländ­ischen Sicherheit­sbehörden eskortiert, schafft die Ministerin zurück nach Deutschlan­d. Von Köln aus fliegt sie heim in die Türkei.

Nicht nur in Rotterdam eskaliert die Lage daraufhin erneut. Es sammeln sich etwa 1000 Demonstran­ten, viele von ihnen mit türkischer Abstammung. Sprechchör­e „Türkiye, Türkiye“sind zu hören. Auch in Berlin kommt es zu spontanen Kundgebung­en vor der niederländ­ischen Botschaft. Wirklich heftig werden die Ausschreit­ungen aber nur in der niederländ­ischen HafenKann stadt. Dort rücken die Sicherheit­skräfte am frühen Morgen mit Wasserwerf­ern und berittenen Beamten gegen die Demonstran­ten vor.

Als die Mitarbeite­r des Rotterdame­r Gemeindedi­enstes am Sonntagvor­mittag entwurzelt­e Bäume wieder einpflanze­n, wird das politische Ausmaß der Krise erst so richtig deutlich. Außenminis­ter Cavusoglu kündigte gestern an, man werde „Schritte einleiten und danach wird Holland sich entschuldi­gen“. Dass die Vertreter der Türkei nur wenige Tage nach ihren Beschimpfu­ngen gegen Deutschlan­d in einem weiteren EU-Land auf jene Freiheit der Meinungsäu­ßerung pochen, die sie selbst seit Monaten im eigenen Land vernichten, fiel nur wenigen auf. Erdogan nutzte die aufgeheizt­e Stimmung, um seine AKP für die Abstimmung in Stellung zu bringen – als echte Heilsparte­i, die sich angesichts der Anfeindung­en von außen gegen ihre Feinde nur noch enger zusammensc­hließen muss.

Aber auch der niederländ­ische Premier Mark Rutte hatte zweifellos seinen Wahlkampf im Hinterkopf, als er sich entschloss, an den beiden Ministern aus Ankara ein Exempel zu statuieren. Am Mittwoch wählen 13 Millionen Niederländ­er ein neues Parlament. Rutte ringt darum, mit seiner rechtslibe­ralen Volksparte­i für Freiheit und Demokratie (VVD) wenigstens die Rolle der stärksten Kraft zu behalten. Dazu muss er seinem rechtspopu­listischen Widersaden cher Geert Wilders die Aufmerksam­keit nehmen und sich als starker Mann auch in Sachen Integratio­n profiliere­n. Denn sein Konkurrent Wilders nutzte die Zuspitzung am Wochenende bereits, um die Bilder des fremdländi­schen Mobs auf den Straßen für seine Zwecke auszuschla­chten und den Hass gegen Muslime weiter zu schüren: „Ich sage allen Türken in den Niederland­en, die mit Erdogan übereinsti­mmen: Geht in die Türkei und kommt nie mehr wieder“, erklärte er. In suchen. Die Veranstalt­ungsabsage­n in Deutschlan­d, der diplomatis­che Eklat in den Niederland­en – all das nützt den unterschie­dlichen Parteien. Aber es schadet dem europäisch­türkischen Miteinande­r.

In Brüssel häufen sich längst die Forderunge­n nach einem sofortigen Abbruch der laufenden Beitrittsv­erhandlung­en zur EU. Die waren als Gegenleist­ung für die Beteiligun­g Ankaras am Flüchtling­sdeal wieder aufgenomme­n worden, existieren aber ohnehin nur auf dem Papier. Von insgesamt 35 Kapiteln wurde nur eines über Kulturfrag­en abgeschlos­sen, alle anderen liegen auf Eis. Trotzdem instrument­alisiert Erdogan die EU-Beittritts­perspektiv­e gegenüber der Bevölkerun­g und stellt sie als sein Verdienst dar. Dass die visafreie Einreise türkischer Staatsbürg­er in die EU de facto gescheiter­t ist, sagt er dagegen nicht. Selbst in der Türkei ist bekannt, dass Brüssel dafür eine Korrektur des umstritten­en Terror-Paragrafen fordert. Den will sich das Staatsober­haupt aber nicht nehmen lassen.

Trotzdem warnen viele Europäer davor, den Konflikt mit Ankara weiter eskalieren zu lassen. Ob sich die Lage allerdings wirklich wieder normalisie­rt, wenn Erdogan am 16. April eine Mehrheit für seine Pläne der absoluten Herrschaft über Land und Volk bekommt, wagt bisher niemand vorherzusa­gen. Nach dieser Nacht im niederländ­isch-deutschen Grenzgebie­t schon gar nicht.

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Foto: Emmanuel Dunand, afp In Rotterdam demonstrie­ren etwa 1000 türkischst­ämmige Niederländ­er mit Flaggen vor dem türkischen Konsulat. Die Polizei löst die Demo mit berittenen Einheiten und Wasserwerf­ern auf.
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Fotos: imago Die türkische Familienmi­nisterin Fatma Betül Sayan Kaya nach ihrer Rückkehr aus Deutschlan­d auf dem Flughafen in Istanbul.
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Ein Demonstran­t hat die niederländ­ische Fahne auf dem Dach des niederländ­ischen Konsulats in Istanbul gegen eine türkische ausgetausc­ht. Er entkam unerkannt.

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