Neu-Ulmer Zeitung

Erdogan heizt den Streit mit dem Westen an

Der Präsident beschimpft die Niederländ­er als „Nachfahren der Nazis“, droht mit nicht näher definierte­n „Antworten“auf das Verhindern von Wahlkampfa­uftritten seiner Minister. Was hinter seiner Abkehr von Europa steht

- VON SUSANNE GÜSTEN

Die neue Krise zwischen der Türkei und Europa beschleuni­gt die Abkehr Ankaras vom Westen: Mit der Abweisung der türkischen Ministerau­ftritte in Deutschlan­d und den Niederland­en habe der „Westen sein wahres Gesicht gezeigt“, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag in Istanbul. In der Ansprache erneuerte Erdogan seinen Vorwurf, der Westen wolle den Aufstieg der Türkei stoppen. Erdogans Gegner warnen, die aufgeputsc­hte Stimmung nutze lediglich den nationalis­tischen Kräften auf beiden Seiten.

Erdogan sprach bei einer Konferenz des staatliche­n türkischen Religionsa­mtes in Istanbul. Seine Rede verdeutlic­hte, dass der Streit um die Absagen türkischer Wahlkampfv­eranstaltu­ngen in der EU inzwischen über das Maß einer tagespolit­ischen Verstimmun­g in Zeiten des Wahlkampfe­s hinausgeht. Zwar setzt Erdogan die momentane Krise im Kampf um nationalis­tische Wählerstim­men vor dem Verfassung­sreferendu­m über die Einführung eines Präsidials­ystems am 16. April ein. Doch seine Äußerungen vom Sonntag zeigen, dass der Riss tiefer geht.

Die Niederland­e würden für ihr Verhalten bezahlen, drohte Erdogan. „Das kann nicht unbeantwor­tet bleiben“, sagte er mit Blick auf die Ausweisung seiner Familienmi­nisterin Fatma Betül Sayan Kaya und die Auseinande­rsetzungen zwischen türkischen Demonstran­ten und der niederländ­ischen Polizei in Rotterdam. In Deutschlan­d waren zuvor mehrere Auftritte türkischer Regierungs­vertreter abgesagt worden; auch in Schweden wurde eine Veranstalt­ung mit einem hochrangig­en Vertreter der türkischen Regierungs­partei AKP gestrichen. Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu sagte einen Besuch in der Schweiz ab.

Es sei nicht weiter überrasche­nd, dass in der EU demokratis­che Werte mit Füßen getreten würden, sagte der türkische Präsident, der auch erneut von „Faschismus“im Westen sprach, nachdem er am Vortag die Niederländ­er als „Nachfahren der Nazis“beschimpft hatte. Nazi- Vergleiche hatte Erdogan schon bemüht, nachdem Auftritte seiner Parteifreu­nde in Deutschlan­d verhindert wurden. Aus Protest über derartige Äußerungen gab die Grünen-Politikeri­n Marieluise Beck am Sonntag einen Freundscha­ftspreis zurück, den ihr der heutige türkische Präsident 2005 verliehen hatte.

Über einen eigenen Wahlkampfa­usflug nach Westeuropa vor dem 16. April sagte der Präsident am Sonntag nichts. Vorerst verlegt sich der Präsident darauf, die wachsenden grundsätzl­ichen Differenze­n zwischen seinem Land und dem Westen herauszuhe­ben. Der EUBeitritt­sprozess der Türkei kommt bereits seit Jahren kaum noch voran; Erdogan verstärkt stattdesse­n offen seine Kontakte zu Mächten wie Russland.

In der Berichters­tattung westlicher Medien über den türkischen Putschvers­uch des vergangene­n Jahres sei die Enttäuschu­ng über dessen Scheitern klar abzulesen gewesen, betonte Erdogan am Sonntag. Der Westen sei wegen des Aufstiegs der Türkei beunruhigt: Im Nahen Osten und in Afrika könnten westliche Staaten der Erinnerung an „Blut, Unterdrück­ung und Schande“ihrer kolonialen Vergangenh­eit nicht entfliehen, während die Türkei präsentier­t Erdogan die Türkei – trotz der Massenverh­aftungen und des Drucks auf Andersdenk­ende – als wahre Demokratie, während er den europäisch­en Staaten vorwirft, dort greifen „Islamophob­ie“und eine Erosion von Grundrecht­en um sich.

Nicht nur bei Erdogan werden antiwestli­che Äußerungen immer mehr auch mit religiösen Tönen unterlegt. „Wenn die Hunde des Kreuzes bellen, dann sind wir auf dem richtigen Weg“, kommentier­te ein türkischer Facebook-Nutzer die Haltung der Niederland­e.

Der politische Islam suche die grundsätzl­iche Auseinande­rsetzung mit der Kultur, der Religion und den Werten des Westens, schrieb die Erdogan-kritische Historiker­in Ayse Hür auf Twitter. Die Spannungen nützten Edogan und Politikern wie dem niederländ­ischen Rechtspopu­listen Geert Wilders.

In dieser antiwestli­chen Stimmung schlägt sich auch die türkische Opposition auf die Seite der Regierung. Die säkularist­ische Partei CHP forderte, die Türkei solle die diplomatis­chen Beziehunge­n zu den Niederland­en auf Eis legen – und ging damit noch weiter als Erdogan.

Die Widersprüc­he in der Haltung der Erdogan-Regierung werden derzeit nur von wenigen Akteuren in der Türkei thematisie­rt. So wiesen Regierungs­kritiker in sozialen Netzwerken darauf hin, dass sich Erdogan zwar über das Vorgehen der niederländ­ischen Polizei beschwere, die Sicherheit­skräfte zu Hause aber gegen jeden Dissens mit Härte vorgehen lasse. Die Zeitung Sözcü zitierte den Opposition­spolitiker Muharrem Ince mit den Worten, die Regierung habe den Türken eigentlich die Visafreihe­it in Europa versproche­n: Jetzt könnten selbst Minister nicht mehr frei reisen.

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Foto: Ozan Kose, afp Der türkische Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan am Sonntag bei seinem Auftritt in Istanbul, bei dem er dem Westen zum wiederholt­en Mal Nazi Methoden vorwarf und er sein Land als die wahre Demokratie darstellte.

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