Schöne Form abseits der Norm
Uli Westphal kämpft gegen Lebensmittelverschwendung und für Nachhaltigkeit – mit den Mitteln der Kunst. Wer seine Arbeit kennt, geht mit anderen Augen zum Einkaufen
Die Tomaten sehen zum Anbeißen aus. Und jede ist ein Unikat. Dunkelgrün, gelb, knallrot oder alles gleichzeitig, kugelrund, flaschenförmig oder geriffelt. Uli Westphals großformatige Fotoarbeit „Lycopersicum III“(oben auf dieser Seite), benannt nach dem botanischen Namen der Tomate, Solanum lycopersicum, könnte ein Götterhimmel für Kenner dieser Frucht sein, wäre sie nicht zugleich eine Totentafel. Denn die Tomatensorten, die auf diesem an Biologie-Lehrbücher oder Ernährungsratgeber erinnernden Tableau zu sehen sind, kann man nirgendwo mehr kaufen. Sie wurden von den Züchtern aussortiert, weil sie den Anforderungen des Marktes nicht mehr genügen.
Eine Arbeit, die typisch ist für Westphal. Der Berliner, geboren 1980, beschäftigt sich seit zehn Jah- ren künstlerisch mit den Themen Ernährung, Nachhaltigkeit und Konsum. Auslöser dafür war sein Umzug in die Hauptstadt. Auf einem Wochenmarkt entdeckte er dort Gemüse, das ganz anders aussah als jenes, das er kannte – obwohl er im eher ländlich geprägten Münsterland aufgewachsen war. Er sah Kartoffeln, Karotten, Tomaten, die ßen. Dabei ist er Teil einer Essensretter-Bewegung, die es inzwischen in vielen Städten und Regionen gibt: Menschen, die einwandfreie Lebensmittel davor bewahren wollen, einfach aussortiert oder weggeworfen zu werden – weil sie nicht den von Industrie und Handel vorgegebenen Normen oder den ästhetischen Vorstellungen der Konsumenten entsprechen. Einer größeren Öffentlichkeit wurde auf das Thema durch Valentin Thurns Dokumentarfilm „Taste the Waste“(2011) aufmerksam. Für das zugehörige Kochbuch fertigte Westphal die Fotos.
Serien wie die „Mutatoes“oder der „Cultivar“-Zyklus bewegen sich optisch zwischen dem dokumentarischen Ansatz wissenschaftlicher Fotografie, der Hochglanz-Ästhetik der Werbung – und Porträtaufnahmen. Dazu passt, dass Westphal das Obst und Gemüse satt ausgeleuchtet vor weißem Hintergrund ablichtet. Durch das Ordnen der einzelnen Motive nach Farben und Formen auf großen Tableaus hinterfragt er Handelsklassifizierungen, aber auch vermeintliche Qualitätskriterien.
Was dieses angeht, findet Westphal, werden wir als Verbraucher sowieso von Supermärkten an der Nase herumgeführt, was er in einigen weiteren Arbeiten auch gewitzt thematisiert. So etwa bei „Shelf Life“, einer Installation aus fünf verschiedenfarbigen Leuchtstoffröhren, die an den Minimalisten Dan Flavin erinnert. Nur sind es ganz besondere Röhren: die oberste wird etwa benutzt, um Rindfleisch extra-saftig aussehen zu lassen, die unterste, um Backwaren in besonders appetitliches Licht zu rücken.
Uli Westphals Kunst ist plakativ im besten Sinne. Sie soll schließlich auch etwas bewirken. „Man hat als Künstler eine Stimme, die man nutzen sollte“, sagt er. Und für jeden, der sich nicht mehr manipulieren lassen will, hat er in der Ulmer Ausstellung ein besonderes Angebot: einen kostenlosen „Taschenführer zur Supermarkt-Psychologie“zum Mitnehmen. O
„Feldstudien“von Uli Westphal läuft noch bis 18. Juni im Mu seum der Brotkultur in Ulm. Geöffnet täg lich von 10 bis 17 Uhr.
Fingergeläufigkeit: ein großes, bedeutungsschweres Wort. Bis zu einem gewissen Grad kann man sie trainieren; in höheren Gefilden hat man sie, oder man hat sie nicht. Dann bewegen sich die Gliedmaßen wie von selbst über das Griffbrett und den Korpus, modellieren Melodien, jonglieren mit Harmonien und Takten, vollführen tollkühne Oktavsprünge.
Wenn einem das in den Genen steckt wie dem Gitarristen Ralph Towner, dann funktioniert es immer und überall, in guten wie in schlechten Tagen, vom siebten bis zum 77. Lebensjahr, in New York, Buenos Aires oder in Neuburg. Im einmal mehr restlos ausverkauften Birdland Jazzclub beobachten die Fans Towners Finger, wie sie flitzen, marschieren, gleiten, springen, laufen, tänzeln oder schlendern, wie sie miteinander im Einklang bleiben, die Ideen und manchmal auch den Instinkt ihres Besitzers ohne Umwege in Klänge umwandeln. Towner spielt nicht nur mit seinen natürlichen Werkzeugen, sondern auch mit jeder Menge Herzblut, im Titelsong seiner jüngsten CD „My Foolish Heart“ebenso wie in riskanten Duetten mit Javier Girotto (Sopransaxofon). Und mit jeder Menge freier Fantasie. Ein Privileg, das er sich nach all den bewegten Jahren mit der Kultband Oregon, mit Weather Report sowie an der Seite von Keith Jarrett, Jan Garbarek oder John McLaughlin einfach gönnt.
Es sind vor allem die Solostücke, mit denen der eigentliche Erfinder der Weltmusik den Kellerklub verzaubert. Kleinodien, die einen tiefen Sinn fürs Instrument offenbaren,