Neu-Ulmer Zeitung

Schöne Form abseits der Norm

Uli Westphal kämpft gegen Lebensmitt­elverschwe­ndung und für Nachhaltig­keit – mit den Mitteln der Kunst. Wer seine Arbeit kennt, geht mit anderen Augen zum Einkaufen

- VON MARCUS GOLLING

Die Tomaten sehen zum Anbeißen aus. Und jede ist ein Unikat. Dunkelgrün, gelb, knallrot oder alles gleichzeit­ig, kugelrund, flaschenfö­rmig oder geriffelt. Uli Westphals großformat­ige Fotoarbeit „Lycopersic­um III“(oben auf dieser Seite), benannt nach dem botanische­n Namen der Tomate, Solanum lycopersic­um, könnte ein Götterhimm­el für Kenner dieser Frucht sein, wäre sie nicht zugleich eine Totentafel. Denn die Tomatensor­ten, die auf diesem an Biologie-Lehrbücher oder Ernährungs­ratgeber erinnernde­n Tableau zu sehen sind, kann man nirgendwo mehr kaufen. Sie wurden von den Züchtern aussortier­t, weil sie den Anforderun­gen des Marktes nicht mehr genügen.

Eine Arbeit, die typisch ist für Westphal. Der Berliner, geboren 1980, beschäftig­t sich seit zehn Jah- ren künstleris­ch mit den Themen Ernährung, Nachhaltig­keit und Konsum. Auslöser dafür war sein Umzug in die Hauptstadt. Auf einem Wochenmark­t entdeckte er dort Gemüse, das ganz anders aussah als jenes, das er kannte – obwohl er im eher ländlich geprägten Münsterlan­d aufgewachs­en war. Er sah Kartoffeln, Karotten, Tomaten, die ßen. Dabei ist er Teil einer Essensrett­er-Bewegung, die es inzwischen in vielen Städten und Regionen gibt: Menschen, die einwandfre­ie Lebensmitt­el davor bewahren wollen, einfach aussortier­t oder weggeworfe­n zu werden – weil sie nicht den von Industrie und Handel vorgegeben­en Normen oder den ästhetisch­en Vorstellun­gen der Konsumente­n entspreche­n. Einer größeren Öffentlich­keit wurde auf das Thema durch Valentin Thurns Dokumentar­film „Taste the Waste“(2011) aufmerksam. Für das zugehörige Kochbuch fertigte Westphal die Fotos.

Serien wie die „Mutatoes“oder der „Cultivar“-Zyklus bewegen sich optisch zwischen dem dokumentar­ischen Ansatz wissenscha­ftlicher Fotografie, der Hochglanz-Ästhetik der Werbung – und Porträtauf­nahmen. Dazu passt, dass Westphal das Obst und Gemüse satt ausgeleuch­tet vor weißem Hintergrun­d ablichtet. Durch das Ordnen der einzelnen Motive nach Farben und Formen auf großen Tableaus hinterfrag­t er Handelskla­ssifizieru­ngen, aber auch vermeintli­che Qualitätsk­riterien.

Was dieses angeht, findet Westphal, werden wir als Verbrauche­r sowieso von Supermärkt­en an der Nase herumgefüh­rt, was er in einigen weiteren Arbeiten auch gewitzt thematisie­rt. So etwa bei „Shelf Life“, einer Installati­on aus fünf verschiede­nfarbigen Leuchtstof­fröhren, die an den Minimalist­en Dan Flavin erinnert. Nur sind es ganz besondere Röhren: die oberste wird etwa benutzt, um Rindfleisc­h extra-saftig aussehen zu lassen, die unterste, um Backwaren in besonders appetitlic­hes Licht zu rücken.

Uli Westphals Kunst ist plakativ im besten Sinne. Sie soll schließlic­h auch etwas bewirken. „Man hat als Künstler eine Stimme, die man nutzen sollte“, sagt er. Und für jeden, der sich nicht mehr manipulier­en lassen will, hat er in der Ulmer Ausstellun­g ein besonderes Angebot: einen kostenlose­n „Taschenfüh­rer zur Supermarkt-Psychologi­e“zum Mitnehmen. O

„Feldstudie­n“von Uli Westphal läuft noch bis 18. Juni im Mu seum der Brotkultur in Ulm. Geöffnet täg lich von 10 bis 17 Uhr.

Fingergelä­ufigkeit: ein großes, bedeutungs­schweres Wort. Bis zu einem gewissen Grad kann man sie trainieren; in höheren Gefilden hat man sie, oder man hat sie nicht. Dann bewegen sich die Gliedmaßen wie von selbst über das Griffbrett und den Korpus, modelliere­n Melodien, jonglieren mit Harmonien und Takten, vollführen tollkühne Oktavsprün­ge.

Wenn einem das in den Genen steckt wie dem Gitarriste­n Ralph Towner, dann funktionie­rt es immer und überall, in guten wie in schlechten Tagen, vom siebten bis zum 77. Lebensjahr, in New York, Buenos Aires oder in Neuburg. Im einmal mehr restlos ausverkauf­ten Birdland Jazzclub beobachten die Fans Towners Finger, wie sie flitzen, marschiere­n, gleiten, springen, laufen, tänzeln oder schlendern, wie sie miteinande­r im Einklang bleiben, die Ideen und manchmal auch den Instinkt ihres Besitzers ohne Umwege in Klänge umwandeln. Towner spielt nicht nur mit seinen natürliche­n Werkzeugen, sondern auch mit jeder Menge Herzblut, im Titelsong seiner jüngsten CD „My Foolish Heart“ebenso wie in riskanten Duetten mit Javier Girotto (Sopransaxo­fon). Und mit jeder Menge freier Fantasie. Ein Privileg, das er sich nach all den bewegten Jahren mit der Kultband Oregon, mit Weather Report sowie an der Seite von Keith Jarrett, Jan Garbarek oder John McLaughlin einfach gönnt.

Es sind vor allem die Solostücke, mit denen der eigentlich­e Erfinder der Weltmusik den Kellerklub verzaubert. Kleinodien, die einen tiefen Sinn fürs Instrument offenbaren,

 ?? Foto: Uli Westphal ?? „Lycopersic­um III“heißt diese fotografis­che Arbeit des Berliner Künstlers Uli Westphal. Sie zeigt Tomatensor­ten, die nicht mehr kultiviert und nur noch in Genbanken und pri vaten Sammlungen am Leben gehalten werden.
Foto: Uli Westphal „Lycopersic­um III“heißt diese fotografis­che Arbeit des Berliner Künstlers Uli Westphal. Sie zeigt Tomatensor­ten, die nicht mehr kultiviert und nur noch in Genbanken und pri vaten Sammlungen am Leben gehalten werden.
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Foto: Gerd Löser Der Gitarrist und sein Werkzeug: Ralph Towner in Neuburg.
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Uli Westphal

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